Die „schwingenden“ Frauen aus Iitate in Berlin

Tagebuch eines japanischen Journalisten von fukumoto masao (2014)

Am 11. März 2014, genau 3 Jahre später nach der FUKUSHIMA-Katastrophe, ist ein Buch von mir in Japan erschienen. Das Buch heißt „Deutschland, seit 28 Jahren niedrig verstrahlt. Die Tschernobyl-Katastrophe findet noch kein Ende“ (Der Titel wurde durch mich ins Deutsche übersetzt). Ich dachte, dass es besser wäre, wenn man wissen würde, was nach der Tschernobyl-Katastrophe in Deutschland passiert ist, da die Lebensumstände in Deutschland denen in Japan ähnlicher sind als die in der Ukraine.

Dorfcafé Agri

Danach erhalte ich eine eMail von meinem Verlag in Tokio. Die zwangsevakuierten Frauen aus dem Dorf Iitate in der Präfektur Fukushima sollen nach Berlin kommen wollen. Der Verlag fragt mich, ob ich sie in Berlin betreuen kann. Die Frauen waren vor 25 Jahren in Deutschland und Frankreich. Sie sind fast alle Bauernsfrauen und waren damals im September verreist, obwohl man als Bauer normalerweise kurz vor der Erntezeit des Reises sehr beschäftigt ist. Für mich war es unvorstellbar, wie sie das als Bauernsfrau geschafft haben.

Man nannte sie damals „19 schwingende junge Frauen“. Die Frauen sind jetzt nach der Katastrophe getrennt evakuiert. Ihr Heimatdorf liegt eigentlich vom Unfall-AKW mehr als 30 km entfernt, und damit zählte die Ortschaft zuerst nicht zu den Sperrgebieten. Da es dort aber mehr verstrahlt war, als man zuerst erwartet hatte, musste man erst mehr als einen Monate nach der Katastrophe zwangsweise das Heimatdorf verlassen.

Eine der Frauen ist ICHISAWA Miyuki. Sie hat in Iitate mit ihrem Mann Shuko ein Café „Agri“ betrieben. Sie haben dort selbst Kaffee geröstet. Shuko war international unterwegs, um Kaffeebohnen selbst zu beschaffen. Das Café war als Café in einem Dorf besonders für auswärtige Gäste sehr beliebt.

Miyuki war zuerst Beamtin der Präfektur Fukushima und hat zuerst für ihre berufliche Anfangsausbildung einige Tage bei einem Bauern die Landwirtschaft miterleben müssen. Beim Bauer, der Miyuki aufgenommen hat, war Shuko dessen Sohn, und sie haben sich dabei zuerst kennengelernt. Ein halbes Jahr später hat sich Miyuki in einen kleinen Autounfall verwickelt und leicht verletzt. Der gegenseitige Fahrer war Shuko.

So haben sie sich wiedergesehen, und danach hat sich die Liebe entwickelt. Auch nach der Heirat hat Miyuki als Beamtin gearbeitet, aber nach der Geburt des dritten Kindes hat sie gekündigt, da sie die Betreuung aller drei Kinder nicht einfach der Schwiegermutter überlassen wollte. Danach musste sie viel in der landwirtschaftlich arbeitenden Familie mitarbeiten. Ihr Mann Shuko war als Kommunalbeamter sehr beschäftigt und konnte sich mit der Landwirtschaft der Familie nicht viel befassen.

Trotz aller Beschäftigungen als Bauerfrau war sie mit den anderen „schwingenden“ jungen Frauen 10 Tage in Deutschland und Frankreich. Sie haben auch bei den Gastfamilien gewohnt. Alles war für sie total neu, und sie alle wurden vom Kulturschock überwältigt. Miyuki konnte sich an die Gesichter ihrer Kinder nicht mehr erinnern, als sie im Flughafen Narita/Tokio zurückgekommen ist.

Je älter Shukos Vater wurde, desto mehr wollte Shuko als Bauernsohn für die Landwirtschaft der Familie tun. Er und Miyuki haben lange überlegt, und er hat sich entschlossen, zu Ende März 1992 zu kündigen. Sie haben gedacht, dass er sich mit der Landwirtschaft mehr beschäftigen kann, wenn er sich selbständig macht.

Zuerst haben sie an die Eröffnung einer Gaststätte mit einem Gemüseladen gedacht, in dem sie selbst geerntete Gemüse verkaufen. Sie haben auch an ein Café zum Gemüseladen gedacht. Entscheidend war aber für sie, dass sie ein Ehepaar kennengelernt haben, das auf einem Dort ein Café und eine Kaffeerösterei betreibt.

Dann hat Miyuki ihrem Mann gesagt, dass sie sich als Kaffeerösterin bei ihnen ausbilden lassen möchte. Ihr wurde aber von ihnen ein Café in Tokio empfohlen. Der Chef des Tokioter Cafés, Herr Taguchi war etwas zögerlich, eine Frau zur Kaffeerösterin auszubilden. Aber ohne seine Ausbildung und Ratschläge hätten Miyuki und Shuko an das Café Agri in der Form nicht denken können, in der es 1992 von ihnen in Iitate eröffnet wurde.

Nach der Katastrophe mussten sie zwangsweise evakuieren und einen neuen Standort für ihr Café suchen. Ihr Konzept für das Dorfcafé ist nicht mehr umsetzbar, und sie haben ein Café unter dem gleichen Namen „Agri“ in der Stadt Fukushima eröffnet, obwohl der Name „Agri“ aus dem englischen Wort „Agriculture (Landwirtschaft)“ stammt.

Miyuki und Shuko haben dann nach dem Rat meines Verlages ein Buch in dem Verlag herausgegeben, das ihre Geschichte vor und nach der Katastrophe beschreibt. Das war genau ein Jahr früher als mein Buch.

Mein Verlag hat mir das Buch geschickt, und mein Buch sollen bereits alle Teilnehmer an der Reise nach Deutschland haben und vor der Reise lesen wollen.

Kirschbäume im Mauerstreifen

Alle 19 damals junge Frauen sind jetzt nicht mehr in der Heimat, sondern evakuiert. Nicht alle können nach Berlin kommen, aber 10 Frauen wollen gerne eine Reise nach Berlin machen, da sie einen Wunsch haben.

Nach der Reise vor 25 Jahren haben sie alle eigene Berichte verfasst, und daraus ist ein Buch entstanden, das von ihnen selbst herausgegeben wurde. Das Buch wurde gut verkauft, und insgesamt sollen ca. 10.000 Exemplare verkauft worden sein.

Von diesem Erlös haben sie für die Kirschbäume gespendet, die nach dem Mauerfall durch die Initiative aus Japan in den Berliner Mauerstreifen gepflanzt wurden. Sie wollen jetzt die von ihnen gespendeten Kirschbäume sehen und schauen, wie groß sie geworden sind. Sie waren davon fest überzeugt, dass einige Kirschbäume durch ihre Spendengelder in Japan eingekauft wurden und jetzt in Berlin groß aufgewachsen sind.

Ich soll „ihre“ Kirschbäume in Berlin herausfinden und sie zu den Kirschbäumen führen.

Ich interpretiere ihren Wunsch und ihre Gemütslage so:

Die Frauen müssen jetzt nach der Atomkatastrophe von ihrem Heimatdorf evakuiert leben und können sich jetzt nicht mehr so oft miteinander treffen. Ihre Zukunft ist ungewiss, und sie wissen nicht, ob sie in die Heimat zurückkehren können. Sie sind total verunsichert. Wenn sie in Fukushima sind, dann fühlen sie sich nicht mehr wohl und frei. Sie brauchen endlich eine Ablenkung von den schweren Umständen.

Sie hoffen, dass ihre Kirschbäume dagegen ohne Zwang frei in einem Fremdland aufgewachsen sind. Wenn sie dann die groß gewachsenen Kirschbäume sehen, dann hoffen sie, dass die Bäume ihnen Mut und Hoffnungen geben können.

Das ist eine schwierige Aufgabe, ihren Wunsch zu erfüllen, dachte ich.

Ich kenne den Japaner schon lange, der damals die Pflanzung von Kirschbäumen in den Mauerstreifen organisiert hat, und habe mich bei ihm danach erkundigt.

Nach seiner Aussage sollen damals gar keine Kirschbäume aus Japan hierhergebracht worden sein. In Japan habe man nur Spendengelder gesammelt, und die Kirschbäume habe man hier in Deutschland beschafft.

Dann kann man gar nicht sagen, welche Kirschbäume von den Frauen aus Iitate gespendet worden sind.

Ich habe es ihnen übermittelt, aber sie konnten die Geschichte einfach nicht glauben und wollen unbedingt „ihre“ Kirchbäume anschauen.

Was soll ich dann machen? Ich will ihren Traum nicht zerstören, der nie erfüllt werden kann, aber wie?

Ich musste noch einmal erklären, dass die in Berlin eingepflanzten Kirschbäume nicht aus Japan gekommen sind, und habe vorgeschlagen, ihnen im Zentrum Berlins die in den Mauerstreifen befindlichen Kirschbäume zu zeigen, für die die Spendengelder damals in Japan gesammelt wurden.

Damit kann man auch Fahrzeit sparen. Sie wollen für eine Woche Berlin und Wien besuchen. Dazu wollen sie noch nach Bielefeld fahren, um die von Bodelschwinghsche Stiftungen Bethel zu besuchen. Sie haben auf jeden Fall wenig Zeit, in Berlin hin und her zu fahren.

Mein Vorschlag wurde angenommen, und ich war erleichert.

Ich dachte an die Kirschbäume am damaligen Grenzübergang Bornholmer Strasse. Dort kann ich ihnen auch über die Geschichte des Mauerfalls am 09.11.1989 berichten.

Kirschblüten

Ich begleite die Frauen aus Iitate einen ganzen Tag in Berlin. Ich fahre früh morgens zu ihrem Hotel, um die Frauen abzuholen.

Als ich vor dem Hotel war, sah ich schon, dass die Frauen in der Hotellobby sind. Das sind sie, habe ich sofort gedacht. Sie sind nicht mehr so jung wie damals vor 25 Jahren, aber sehen ganz munter und aktiv aus. Sie sind irgendwie unverwechselbar. Ich begrüße sie sofort mit dem japanischen Begrüßungswort „Ohayo Gozaimasu (Guten Morgen)“. Dann sagen sie mir hundertdmal heller und munter „Ohayo Gozaimasu“.

Das war eine überwältigende Begegnung.

Miyuki kommt gleich zu mir und stellt sich mir vor. Wir begrüßen uns, aber mir scheint, dass sie mir gar nicht fremd ist. Wir sprechen schon ganz offen miteinander, als ob wir uns schon lange kennen würden.

Sie sagt mir ganz leise, dass eine Frau heute leider nicht mitkommen kann. Trotz einer schweren Krebserkrankung ist sie mitgekommen, aber sie fühlt sich jetzt nach der langen Reise aus Japan nicht wohl und soll im Hotel bleiben.

Ich frage Miyuki, ob sie medizinisch behandelt werden soll. „Nein, das ist nicht notwendig“ sagt sie. Nachher habe ich erfahren, dass sie sich in einem ziemlich fortgeschrittenen Krebsstadium befindet. Trotzdem wollte sie unbedingt mit den anderen damaligen schwingenden Frauen mitkommen.

Gleich nachdem das Dorf Iitate Ende März 2017 für die Rücksiedlung freigegeben worden war, ist die schwer erkrankte Frau sofort nach Hause zurückgekehrt. Einige Monate später, im Sommer 2017, ist sie dort gestorben. Miyuki sagte mir später, sie wollte unbedingt zu Hause sterben. Miyuki hat bei ihrer Trauerfeier eine Trauerrede gehalten.

Wir fahren mit der S-Bahn zum Bahnhof Bornholmer Strasse.

Zuerst erzähle ich ihnen im Bereich des Grenzübergangs, was am Abend des 09.11.1989 passierte. Zuerst erzählte ich, was sich in der Pressekonferenz kurz vor 19.00 Uhr ereignete.

Wir gehen dann von der Straße nach unten zum ehemaligen Mauerstreifen, wo die Kirschbäume eingepflanzt sind. Sie sind schon groß aufgewachsen, und es sieht dort wie in einem Kirschbaumtunnel aus.

Kirschbäume im Mauerstreifen Bornholmer Strasse

Dann ruft eine Frau sehr laut. „Kommt schnell. Da ist eine Kirschblüte, und da auch noch eine.“ Es ist eigentlich unvorstellbar, dass im Juni der Kirschbaum blüht. Aber wahrscheinlich müssen sie Yae-zakura sein. Dann wäre es möglich. Blütenkirschen sind sehr vielfältig, aber die Sorte, die jetzt blüht, gehört wahrscheinlich zu Prunus serrulata (Sado-zakura, wörtlich „Dorfkirschen“).

Ja, tatsächlich, hier und da sehe ich einige Kirschblüten.

Eine Kirschblüte im Juni 2014

Die Frauen freuen sich sehr darüber und wissen sich vor Freude nicht zu lassen wie Kinder. Eine sagt, dass diese Kirschblüten für sie bestimmt sind. Sie alle sind ziemlich emotional geworden. Ich sehe, dass viele von ihnen in den Augen Tränen haben.

Die Kirschblüten müssen ihnen bestimmt viel Mut gegeben haben.

Eine Sozialarbeiterin

Am Abend habe ich für sie in einer Gaststätte in der Nähe der Gedächtniskirche ein Treffen mit japanischen Bürgerinnen und Bürgern in Berlin organisiert, die sich gerne mit den Frauen aus Fukushima austauschen wollen.

Wir stellen uns zuerst einzeln allen Anwesenden vor. Da bemerke ich schon, dass die Frauen über die Rücksiedlung nicht der gleichen Auffassung sind. Manche wollen nicht nach Hause zurück, und mache wollen unbedingt bald nach Hause. Dazu kann man als Fremder gar nichts sagen. Ich konnte nur zuhören.

Unter den Frauen aus Iitate ist eine Sozialarbeiterin. Sie kümmert sich als Kommunalbeamtin um die evakuierten Einwohner von Iitate, die jetzt in den provisorischen Wohneinrichtungen wohnen. Ihre Hauptaufgabe ist, die alten Menschen, die meist alleine wohnen, zu besuchen.

Als Journalist bin ich dann an der Sozialarbeiterin aus Iitate interessiert und will sie etwas fragen. Ich suche nach einer Gelegenheit, mit ihr zu einem persönlichen Gespräch zu kommen.

Als wir von der Gaststätte zum Hotel zurückgingen, war es schon dunkel. Es ist noch heiß, und wir sind auf dem Gehweg des Kurfürstendamms unterwegs. Ich gehe zu ihr und stelle mich ihr genauer vor, als ich es in der Gaststätte gemacht habe. Zuerst frage ich sie noch konkret, was sie als Sozialarbeiterin macht.

Sie besucht die in den provisorischen Wohneinrichtungen wohnenden Einwohner und sucht Gespräche mit ihnen. Dabei beobachtet sie, wie es ihnen geht. Die Gespräche sind auch wichtig, da die meisten Bewohner alt sind und allein leben. Sie merkt, dass sie dafür nicht genug Zeit hat, weil sie sich um sehr viele Menschen kümmern muss.

Ich frage sie weiter, ob es bisher bei den Evakuierten Suizidfälle gab. „Ja“, sagt sie. Nicht nur einen, sondern mehrere Fälle soll es gegeben haben. Aber sie ergänzt dazu, dass sie sich eigentlich nicht darüber äußern darf. Die Dorfverwaltung hat ihr verboten, über Suizidfälle bei den Evakuierten zu sprechen.

Ich frage sie, „warum“. Aber sie konnte nur sagen, dass man in Japan so etwas nur verheimlichen will. Das ist normalerweise auch so in Japan, aber es muss noch andere Hintergründe geben, denke ich.

Ich frage sie noch, ob es denn offiziell keinen Suizidfall gibt. „Ja“, sagt sie. Von ihrer Haltung her habe ich verstanden, dass sie darüber nicht mehr sagen will, und musste mich von meiner Fragerei zurückziehen.

Tagebuch