Bürgermessstellen in Japan kämpfen um ihre Existenz
2017
Tagebuch eines japanischen Journalisten von fukumoto masao (2017)
Als ich den Co-Vorsitzenden des Citizen’s Nuclear Information Center in Japan (CNIC), Herrn BAN Hideyuki, im April 2011 nach dem AKW-Unfall von Fukushima auf die Wichtigkeit von Bürgermessstellen hinwies, antwortete er mir, zwar sehe auch er deren Notwendigkeit, finde es aber noch zu früh. Er vermutete, dass Bürgermessstellen zuerst in der Präfektur Fukushima gegründet werden.
Tatsächlich habe ich im Juni 2011 aus Japan die Information bekommen, dass in der Stadt Fukushima eine Bürgerinitiative entstanden ist, die dort eine Messstelle errichten will. Die Initiatoren haben mit der Gesellschaft für Strahlenschutz und diesem Informationsdienst „Strahlentelex“, der selbst aus einer West-Berliner Bürgermessstelle heraus entstanden war, Kontakte aufgenommen. Sie waren circa zwei Monate später in Berlin, um aus den Erfahrungen in Deutschland nach dem Tschernobyl-Unfall zu lernen. Das war der Anlass, dass Strahlentelex damals für die Initiative eine Spendenaktion initiierte. Die Initiative hat in der Präfektur Fukushima unter dem Namen von CRMS (Citizens´ Radioactivity Messuring Station) insgesamt acht Bürgermessstellen mitgegründet.
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Seitdem sind sechs Jahre vergangen. Dazwischen sind in ganz Japan über 100 Bürgermessstellen entstanden. Aber nun verschwinden die Messstellen wieder nach und nach, weil die Bürger in Japan zunehmend weniger Interesse an der Radioaktivität in Lebensmitteln aufbringen und damit die Zahl der zur Messung abgegebenen Proben drastisch abnimmt.
Die Großstadt Yokohama
In Yokohama, eine an Tokio angrenzende Mega-Großstadt, haben die um die Gesundheit ihrer Kleinkinder besorgten Eltern im Herbst 2011 angefangen, sich regelmäßig zu treffen, um eine Bürgermessstelle zu errichten. Ich war bei einem Treffen in der Anfangsphase dabei und sehr beeindruckt, dass sie schon sehr aktiv und bereit waren, entsprechende Fachkenntnisse zu erwerben. Sie haben es dann geschafft, im Frühjahr des folgenden Jahres (2012) eine Bürgermessstelle zu eröffnen.
Am Anfang lief es wunderbar, und alle waren sehr engagiert. Aber nach und nach stellte sich Unzufriedenheit ein, weil die Nachweisgrenze ihres Natrium-Jodid-Messgerätes bei lediglich 6 und 7 Becquerel pro Kilogramm (Bq/kg) für Cäsium 134 und 137 lag und die abgegebenen Lebensmittel immer geringere Radioaktivitätswerte aufwiesen. Auch wenn sie eine lange Messzeit wählten, konnte kein Messwert mehr angegeben werden. Sie haben sehr bedauert, dass sie keinen teureren Germanium-Halbleiterdetektor anschaffen konnten, der genauere Messergebnisse erlaubt hätte. Seit 2014 wurden Lebensmittelproben selten zur Messung abgegeben. Vier Jahre nach der Eröffnung ist die Messstelle in eine kleine Räumlichkeit umgezogen, um die Aktivitäten wesentlich zu reduzieren.
Die Megastadt Tokio
Während meiner Japan-Reise im Juni 2017 habe ich die Bürgermessstelle „Hakaruhmu“ (auf Deutsch: „Messzimmer“) in Machida bei Tokio aufgesucht. Die Messstelle wurde unter der Federführung des emeritierten Professors für Maschinenbau, FUJII Iwane, im Februar 2013 eröffnet. Ihn kannte ich damals bereits. Als ich im Sommer 2008 in Nagasaki einen Vortrag gehalten hatte, habe ich ihn kennen gelernt. Wir waren als Referenten in einem Forum, und ich hatte darüber gesprochen, dass mit der Kernenergie keine wirksame Reduzierung der CO2-Emmissionen erzielt werden kann.
FUJII erinnerte sich an mich und sagte mir, dass es lange gedauert habe, genügend Spendengelder zu sammeln. Sie haben aber schließlich ein Messgerät der Firma EMF Japan anschaffen können, das eine Nachweisgrenze bis 0,5 Bq/kg jeweils für Cäsium-134 und -137 ermöglicht. Der Professor war sehr stolz darauf.
Es war für mich eine besondere Ehre, die Messstelle zu besuchen. Denn in der Messstelle gibt es eine Arbeitsgruppe zum Lesen meines Buches „Deutschland, seit 28 Jahren schwach verstrahlt“, das im März 2014 in Japan veröffentlicht wurde. In diesem Buch habe ich überwiegend die Bürgermessstellen und die gesundheitlichen Auswirkungen in Deutschland nach dem Tschernobyl-Unfall dargestellt.
In der Messstelle arbeiten ausschließlich ehrenamtliche Helfer, die nach und nach weniger geworden sind. Jetzt haben sie eine neue Räumlichkeit gefunden, die für die Messungen kostenlos zur Verfügung gestellt wurde. Wenn sie jedoch dort ein Treffen oder andere Veranstaltungen haben wollen, müssen sie Nutzungsgebühren bezahlen. Ich habe gefragt, wie es jetzt mit der Messstelle läuft. Die Messstelle wird nach Bedarf von zwei bis drei ehrenamtlichen Helfern betrieben, weil jetzt nur noch ganz wenige Lebensmittelproben zur Messung abgegeben werden. Wenn man dann aber misst, kann man heute immer noch ab und zu radioaktiv belastete Lebensmittel feststellen. Um diese herauszufinden, sind heute immer noch Messungen unbedingt notwendig, betonte der ehrenamtliche Helfer KAWANO Kohei.
Die Stadt Fukushima
Ich wollte unbedingt während meiner diesjährigen Japan-Reise die Bürgermessstelle in der Stadt Fukushima besuchen. Sie heißt jetzt nicht mehr CRMS Fukushima, sondern „30 Jahre Projekt für Fukushima“, und ist nicht mehr in der Mitte, sondern am Rand der Stadt Fukushima angesiedelt. Der Herausgeber des Strahlentelex, Thomas DERSEE, der im vergangenen Herbst dort war, hat mir erzählt, dass es sehr schwer war, den Standort zu finden. Sicherheitshalber habe ich vorher darüber genau recherchiert, wie ich dorthin komme. Mit dem Bus soll man die Messstelle jedoch leicht erreichen können.
Ich bin aus dem Bus ausgestiegen, und stand an einer großen viel befahrenen Straße. Ich hatte eine Karte dabei, konnte aber nicht feststellen, wo ich bin, und in welche Richtung ich laufen soll. Ich habe mich zuerst für die bisherige Fahrtrichtung des Busses entschieden und merkte erst nach einer Weile, dass das wohl falsch war. Nun musste ich zurück und mir ist dann klar geworden, wo ich auf der Karte und auf dem richtigen Wege war.
Den Gebäudekomplex, in dem die Messstelle sich jetzt befindet, fand ich sofort sympathisch. Die Anlage wurde durch einige Initiativen, die Kinder von Fukushima unterstützen wollen, errichtet. Ich konnte vom Eingang gleich auf der linken Seite die Messstelle finden.
An der Theke stand ein mir bekanntes Gesicht, Herr SHIMIZU Yoshihiro, der im Sommer 2011 mit in Berlin war. Er wusste, dass ich im Juni in Fukushima sein werde, hatte aber nicht damit gerechnet, dass ich zu ihm komme. Darüber hat er sich sehr gefreut. Eigentlich hatte ich ihn schon vor meinen vorherigen Japan-Reisen einige Male gefragt, wann ich ihn am besten besuchen könnte. Aber immer vergeblich. Er hat darauf nicht geantwortet. Diesmal habe ich mich nicht vorher angemeldet, und wollte ihn mit meinem Besuch überraschen.
Die Messstelle Fukushima wurde zuerst durch zwei Initiatoren, die nach dem Reaktorunfall aus Tokio kamen, gegründet. Ihnen hatten sich einige Einheimische angeschlossen. Nach und nach verschlechterten sich jedoch die Beziehungen zwischen den Auswärtigen und den Einheimischen. Ein Anlass zur Spaltung war, dass man entscheiden musste, ob man Zuwendungen von einer von einem japanischen großen Konzern geförderten Umweltstiftung annehmen soll oder nicht. Der eine Auswärtige war strikt dagegen, aber die anderen waren es nicht und wollten für die Existenz der Messstelle pragmatisch handeln. Nach und nach wurde die Spaltung tiefer, was zur Trennung führte.
SHIMIZU ist eigentlich Biobauer und wohnt im Süden der Präfektur Miyagi an der Grenze zur Präfektur Fukushima. Da er dort seit dem AKW-Unfall keine Landwirtschaft mehr betreiben kann, hat er sich schon vom Anfang an für die Bürgermessstelle engagiert. Er gehört zu den Einheimischen und ist jetzt das geschäftsführende Vorstandsmitglied. Er pendelt jeden Tag eine Stunde von zu Hause zur Messstelle und arbeitet dort zusammen mit dem Vorstandsvorsitzenden ABE Hiromi. Die Beiden sind jetzt dank der Zuwendungen hauptamtlich beschäftigt und werden bezahlt.
Als ich mit SHIMIZU sprach, erschien eine Frau und brachte ihm 10 Bodenproben, die innerhalb einer Woche gemessen werden sollen. Sie sollte das Auftragsformular ausfüllen. SHIMIZU hat ein düsteres Gesicht gemacht, weil einige Bodenproben sehr nass waren. Er sagte ihr, dass das problematisch ist. Wieso, fragte die Frau. Da er mit der Antwort gezögert hat, habe ich ihr gesagt, dass die Bodenproben zuerst getrocknet werden müssen, um die Radioaktivität zu homogenisieren. Sie zuckte mit den Schultern und lächelte. SHIMIZU sagte, dass alles so gemacht werde, wie sie es wünsche.
SHIMIZU erzählte mir, dass sie von einem Natur-Kindergarten kommt, der regelmäßig in der nord-westlich an der Präfektur Fukushima liegenden Stadt Yonezawa (Präfektur Yamagata) für kleine Kinder organisiert wird. Dafür muss sicher sein, dass es dort nicht kontaminiert ist. Er vermute, dass die öffentlichen Zuwendungen des Kindergartens bis zu einer festgelegten Frist aufgebraucht werden müssen, und dass sie daher diesen dringenden Auftrag erteilt hat.
Die Bodenproben werden mit einem Germanium-Halbleiterdetektor gemessen. Dafür werden pro Probe 20.000 Yen verlangt. Für 10 Proben bekommt die Messstelle 200.000 Yen (ca. 1.550 EUR).
Im vergangenen Jahr (2016) hat die Messstelle insgesamt über 700 Proben gemessen. Ein Drittel davon waren Bodenproben, die im Rahmen eines Projektes gemessen werden. Für dieses Projekt misst man regelmäßig gemeinsam mit anderen Bürgermessstellen Bodenproben, die im Norden Japans von Bürgern entnommen werden, und erstellt gemeinsam eine Bodenkontaminationskarte.
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Die Messstelle misst in der Präfektur Fukushima entnommene Bodenproben. In der von mir eingesehenen Liste der Messergebnisse für Cäsium-137 vom März 2017 liegen diese noch zu einem Drittel im 5-stelligen Bereich. Der Höchstwert betrug circa 240.000 Bq/kg, wahrscheinlich ein sogenannter Hotspot.
SHIMIZU sagte mir ferner, dass es sehr wichtig ist, den in der Präfektur Fukushima geernteten Reis noch weiter zu messen, obwohl die Cäsium-137-Werte oft unter 1 Bq/kg liegen. Aber man dürfe dabei nicht sicher sein. Bei Pilzen misst er noch ab und zu 4-stellige Cäsium-137-Werte.
Für den Alltag der Bürgern ist von Bedeutung, dass die Messstelle seit 2012 auch getrocknete frische Wäsche misst, insbesondere Handtücher. Die Handtücher werden im Freien, im Haus oder auf dem Balkon getrocknet. Damit stellt man fest, ob die Handtücher kontaminiert sind, auch wenn sie im Haus getrocknet wurden. Im Allgemeinen lässt sich sagen, je höher die Etage, in der die Wäsche getrocknet wird, desto höher ist der Cäsium-137-Wert. Der Cäsium-137-Höchstwert lag 2016 bei 14,5 Bq/kg. Die Wäsche wurde dabei im 1. Obergeschoss getrocknet.
Die Messstelle in der Stadt Fukushima bietet auch mit einem Gerät aus Weißrussland Ganzkörpermessungen an. Früher wurden überwiegend Kinder gemessen, aber jetzt nicht mehr, erklärte SHIMIZU. Seit einigen Jahren würden im Auftrag einer Agrargenossenschaft regelmäßig Bauern gemessen, die meistens im Freien arbeiten. Im vergangenen Jahr wurden insgesamt 64 Bauern gemessen, davon waren 80 Prozent über 50 Jahre alt. Bei 5 Personen wurde Cäsium-137 nachgewiesen, und der Höchstwert betrug 6,64 Becquerel pro Kilogramm Körpergewicht.
Die beiden hauptamtlich beschäftigten ABE und SHIMIZU organisieren auch Workshops, Veranstaltungen oder Ausflüge für Kinder. Außerdem geben sie regelmäßig Veröffentlichungen wie Newsletter oder Berichte heraus. Sie leisten alles meistens nur zu zweit. Für Veranstaltungen erhalten sie nach Bedarf ehrenamtliche Unterstützung.
SHIMIZU sagte mir, sie hätten ganz viel zu tun. Ohne öffentliche Zuwendungen und Spenden könnte man das so aber nicht leisten. Die Zuwendungen für das nächste Jahr seien noch nicht gesichert.
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(gezeichnet von TANAKA Yu)
Die Stadt Minamisoma
Das Hauptziel meiner diesmaligen Japan-Reise war Minamisoma, da ich von der dortigen Bürgermessstelle „Todokedori“ (auf Deutsch: „Sendevogel“) zu ihrer 5-jährigen Jubiläumsveranstaltung eingeladen worden war. Ich sollte über mein Buch „Deutschland, seit 28 Jahren schwach verstrahlt“ sprechen.
Die Stadt Minamisoma liegt an der Küste, nördlich vom Unfall-AKW Fukushima Daiichi. Sie ist vor circa 10 Jahren als ein Verbund von 3 Bezirken (Odaka, Haramachi und Kashima) entstanden, die jeweils verschiedene historische Hintergründe haben. Das macht die Beziehungen zwischen den Einwohnern kompliziert. Laut Information der Stadtverwaltung sollen durch das Erdbeben und den Tsunami etwa 600 Menschen ums Leben gekommen sein. Die Tsunami-Welle war dort bis zu 9,3 Meter hoch, und dadurch wurden insgesamt über 1.500 Häuser vollständig oder teilweise zerstört.
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Der ganze südliche Bezirk Odaka liegt vom Unfall-AKW nur 20 Kilometer entfernt, weshalb die Einwohner evakuiert wurden. Er gehörte zunächst zur Sperrzone und wurde im Juli 2016 bis auf einige noch höher verstrahlte Gebiete für die Rückkehr freigegeben [1]. Vor der Katastrophe wohnten dort circa 13.000 Einwohner, aber bisher sind nur circa 2.000 Menschen zurückgekommen.
Die Bürgermessstelle „Todokedori“ wurde im Juni 2012 im mittleren Bezirk Haramachi gegründet. Der Initiator war die „Gesellschaft zur Unterstützung von Tschernobyl Chubu-Region“ in Nagoya, die im April 1990 im Zentrum Japans gegründet wurde. Sie ist eine der wenigen Organisationen, die noch langfristig die Betroffenen von Tschernobyl unterstützen. Sie liefert noch Medikamente, medizinische Einrichtungen oder Milchpulver. Die Unterstützung der russischen Katastrophenhelfer („Liquidatoren“) ist ebenfalls einer ihrer Schwerpunkte.
Nach dem AKW-Unfall von Fukushima sind die Vorstandmitglieder der Gesellschaft Mitte April 2011 nach Minamisoma gefahren, um zu erfahren, wie hoch dort die radioaktive Belastung ist, und wie man die Einwohner dort unterstützen kann. Zuerst erfuhren sie dort in der Stadtverwaltung, dass diese überhaupt kein einziges Messgerät besitzt. So schenkten sie ihr als erstes ihr Messgerät, das sie mitgebracht hatten.
Ab Juni 2011 haben sie dann angefangen, dort in der ganzen Stadt die Strahlendosen zu messen. Ein Vorstandmitglied, Herr KAWATA Masaharu, ein Molekularbiologe, der die Messstelle fachlich unterstützt, erklärte mir, „am Anfang haben wir alleine überall gemessen. Am ersten Tag bin ich circa 18 Kilometer gelaufen, um zu messen.“ Nach und nach zeigten auch die Einwohner Interesse und Sympathie für diese Arbeit und arbeiten jetzt schon lange mit ihnen zusammen.
Seitdem messen sie alle 6 Monate die Strahlendosen (Ortsdosisleistung) in Minamisoma. Um die Messpunkte festzulegen, haben sie die Stadt in ein Messnetz im Abstand von 500 Metern aufgeteilt. Aus den Messergebnissen haben sie eine Strahlendosiskarte erstellt, die alle 6 Monate aktualisiert wird. Die Messgebiete wurden inzwischen auf die südlich von Minamisoma angrenzende Ortschaft Nami‘e und die südlich vom Unfall-AKW liegende Ortschaft Tomioka erweitert. Nami‘e und ein kleiner Teil von Tomioka wurden Ende März dieses Jahres (2017) für die Rückkehr der Einwohner freigegeben.
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In diesen Karten werden die Ortdosisleistungen in 10 farbig gekennzeichneten Klassen eingeteilt, von über 3,92 Mikrosievert pro Stunde (µSv/h; rechnerischer Jahresdosiswert [2] über 20 Millisievert pro Jahr (mSv/a)) bis unter 0,15 µSv/h (unter 0,2 mSv/a).
In der neuesten Karte vom April 2017 stelle ich fest, dass es an der Küste weniger verstrahlt ist als am Berg und im Gebirge. Das ist nicht abhängig von der Entfernung zum Unfall-AKW. Ich sehe an der Küste fast nur die dunkelblauen oder dunkeltürkisenen Farben in der Karte, die für Werte von 0,15-0,30 und unter 0,15 µSv/h (0,2-1,0 und unter 0,2 mSv/a) stehen. Das liegt daran, dass die radioaktiven Stoffe enthaltenen Wolken zuerst nach Westen und dann nach Nordwesten gezogen sind. Im Gebirge im Bezirk Odaka sind einige Messnetzblöcke noch in Gelb (1,07-1,54 µSv/h bzw. 5,0-7,5 mSv/a) oder Orange (1,54-2,02 µSv/h bzw. 7,5-10 mSv/a) gekennzeichnet. Wenn man die neueste Karte mit den älteren Karten vergleicht, ist zu erkennen, dass die Ortsdosisleistungen zunehmend niedriger geworden sind.
Die Messstelle Todokedori misst ebenfalls alle 6 Monate Bodenproben. Nach einer Regelung der japanischen Regierung gelten Bodenerden bis zu 8.000 Bq/kg nicht als radioaktiver Müll. Bei 3.000 bis 8.000 Bq/kg können die Erden trocken gelagert werden, keine weitere Verwertung wird zugelassen. Wenn aber diese Erde durch nicht radioaktiv belastete Erde genug abgeschirmt wird, kann sie als Baumaterial wieder verwendet werden, vorausgesetzt, dass in der Umgebung der Grenzwert von 10 µSv/a nicht überschritten wird. Dieser Grenzwert gilt auch für die Freimessung von durch den AKW-Rückbau entstehenden Müll. Wenn ich die Messergebnisse zwischen dem Bezirk Odaka und dem oben liegenden Bezirk Haramachi vergleiche, dann stelle ich fest, dass die Bodenerden in Odaka weniger kontaminiert sind. Das wäre auf die Dekontaminationsarbeit in der Sperrzone Odaka zurückzuführen.
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Im Dezember 2011 hatte man provisorisch begonnen, Lebensmittel zu messen, und die Messstelle „Todokedori“ wurde danach erst im Juni 2012 eingeweiht. Sie heißt offiziell „Radioaktivitätsmesszentrum Minamisoma“. Dabei hatten sie zwei Messgeräte aus Deutschland und aus Japan. Jetzt haben sie noch dazu ein zerstörungsfreies Messgerät, mit dem man Lebensmittel ohne Zerschneidung messen kann, so wie sie sind. So erklärte es mir Herr KOBAYASHI Takenori, der die Messstelle leitet. Er hat die Messstelle eine „Katteren“-Gruppe genannt, die durch Rentner gebildet wurde. „Katteren“ ist ein japanischer Ausdruck für die Bürgerbewegung, die alles ohne Wenn und Aber so durchzieht, wie sie es selbst will.
Herr KOBAYASHI betreibt mit seiner Frau Tomoko die Beherbergungsstätte „Futabaya Ryokan“ im traditionellen japanischen Stil im Bezirk Odaka, wo ich während meines Aufenthaltes in Minamisoma wohnte. Da das Ehepaar nach dem AKW-Unfall evakuieren musste, sind sie nach Nagoya umgezogen. Dort hat KOBAYASHI die Vorstandmitglieder der „Gesellschaft zur Unterstützung von Tschernobyl Chubu-Region“ kennen gelernt. Das waren für ihn eine wichtige Begegnung und ein Wendepunkt. Seitdem engagiert er sich für die Radioaktivitätsmessungen in Bürgerhand.
Bisher wurden insgesamt circa 15.000 Proben gemessen, Dazu zählen nicht nur Lebensmittel, sondern auch Boden- und Wasserproben. Sie messen normalerweise nur in der Stadt Minamisoma geerntete oder entnommene Proben. Für die Region ist es wichtig, regional geerntete Gemüse, Pilzen und im Wald oder Gebirge gepflückte essbare Pflanzen zu messen. Sie nehmen normalerweise im Supermarkt gekaufte Lebensmittel nicht an.
Die meisten Lebensmittel weisen demnach keine sehr hohen Radioaktivitätsgehalte mehr auf. Beim Gemüse lag im vergangenen Jahr der Mittelwert für Gesamtcäsium (Cs-134 + Cs-137) unter 10 Bq/kg, und beim Obst unter 20 Bq/kg. Aber bei Pilzen und wild gewachsenen essbaren Pflanzen sind die Werte noch hoch. Die Mittelwerte liegen bei Pilzen über 10.000 Bq/kg und bei essbaren Pflanzen über 500 Bq/kg. Auch Wildschweinfleisch ist noch mit im Mittel circa 7.700 Bq/kg hoch radioaktiv belastet.
Bemerkenswert ist, dass bei manchen Pflanzen die Messwerte zuerst abnahmen, aber ab 2014 oder 2015 wieder ansteigen. Dabei handelt es sich um Rettich, Gurke, Kürbis, Porree, Taro-Rhizome, manche Pilz- und Esspflanzsorten. Woran das liegt, ist noch nicht klar.
Raps anstelle von Reis
Ein wichtiges Projekt für die Messstelle „Todokedori“ ist jetzt der Rapsanbau, mit dem man 2012 auf einer 2 Hektar großen Fläche begonnen hat. Jetzt beläuft sich die Anbaufläche auf 70 Hektar. Die Idee dazu stammt aus der ukrainischen Region Narodytski, in der man 2007 für den Wiederaufbau nach dem Tschernobyl-Unfall mit dem Rapsanbau begonnen hatte. In Minamisoma werden die jetzt nicht genutzten Reisfelder dafür verwendet. Auf dem Weg zu den Feldern erklärte mir KOBAYASHI, es gebe hier so viele ungenutzte Reisfelder, aber es sei sehr schwer, diese für den Rapsanbau zu bekommen.
Als ich am Rapsfeld war, war die Blütezeit schon vorbei. Schade, dass ich keine gelben Felder mehr erblicken konnte. Hier in der Nähe befindet sich auch ein Messpunkt, der offiziell eingerichtet wurde. Die Anzeige zeigte eine Ortdosisleistung von 0,189 μSv/h. Zum Vergleich: In Berlin liegt der Wert bei circa 0.1 μSv/h.
Messpunkt am RapsfeldSo wird der Raps geerntet
Jetzt wird der Raps geerntet. Dafür wurde eine eigene Erntemaschine angeschafft. Im Anbaufeld sieht man viele Unkräuter. Herr KAWATA sagte mir, dass es dieses Jahr mit Unkräutern extrem problematisch sei, sie wollen aber kein Pflanzenschutzmittel einsetzen. Sie müssen dagegen eine Lösung finden, ansonsten sei der Anbau nicht effektiv.
Zur Zeit werden pro 10 Tan (eine japanische Flächeneinheit, 10 Tan = 991,7 Quadratmeter, circa 0,1 Hektar) 70 Kilogramm Raps geerntet, aus denen Rapsöl hergestellt wird. 30 Prozent des Rapsgewichts wird zu Öl ausgepresst. An der Entwicklung sind die Schüler der Oberschule für Landwirtschaft Minamisoma (eine berufsorientierte Schule für Schüler zwischen 15 und 18 Jahren) beteiligt. Mit dem Rapsöl werden außerdem Dressings und Majonäsen produziert, und die Produkte werden unter dem Namen „Yuna-chan“ verkauft, den die Schüler der Oberschule für Landwirtschaft Minamisoma kreiert haben. „Yuna“ bedeutet Rapsöl, und „-chan“ entspricht dem deutschen Verkleinerungssuffix „-chen“.
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Die Produktion wird jetzt noch durch einen Dritten übernommen, aber ab 2018 will man alles selbst produzieren.
Nach den Erfahrungen aus der Ukraine verbleibt das radioaktive Cäsium allein in den Produktionsrückständen, im Rapsöl ist es nicht mehr nachweisbar.
Nach der Jubiläumsveranstaltung der Messstelle in Minamisoma habe ich den Leiter für den Rapsanbau, Herrn SUGIUCHI Kiyoshige, kennen gelernt. Er wollte mit mir über die Biogaserzeugung sprechen, da deutsche Bauern Biogasanlagen betreiben. Er will die Rückstände von der Rapsölproduktion als Biomasse für die Vergärung einsetzen und durch das Biogas Strom erzeugen.
Mit dem Biogasprojekt kann man das Problem mit der radioaktiven Belastung zwar nicht lösen, aber ich fand die Idee sehr gut. SUGIUCHI will dafür mit jungen Menschen zusammenarbeiten, um ihnen zu zeigen, dass man auch in dieser Region für die Zukunft Perspektiven haben kann.
Ich sagte ihm, dass ich das Projekt hervorragend finde, aber dass man auch die Wirtschaftlichkeit analysieren sollte. Für meine journalistischen Recherchen in Deutschland war ich bereits bei einigen Bauern, die Biogasanlagen betreiben, und habe immer festgestellt, dass sie sehr betriebswirtschaftlich arbeiten, um die Wirtschaftlichkeit zu erzielen. Das hat mich sehr beeindruckt. Es scheint, dass SUGIUCHI damit nicht gerechnet hat. Für ihn ist es nur wichtig, junge Menschen zum Projekt hinzuziehen. An die Wirtschaftlichkeit hat er kaum gedacht. Ich verstehe ihn, aber die Wirtschaftlichkeit ist auch sehr wichtig, wenn man das Projekt langfristig betreiben will. Erst die Langfristigkeit schafft auch für junge Menschen die Perspektive.
Ein Vorstandmitglied von Chubu, Herr KAMITANI Toshinao, war auch dabei und hat alles mitgehört, was wir miteinander gesprochen haben. Dann sagte er zu SUGIUCH: „Du hast dich als Biobauer gegen jeden Widerstand in der Region durchgesetzt. Du schaffst es wieder.“
Anmerkungen:
[1] Die Sperrzone wird für die Rückkehr freigegeben, vorausgesetzt, dass ein Jahresdosiswert von 20 mSv/a nicht überschritten wird. Für die Einzelheiten siehe den Text von „Zurückkehren oder nicht“ von 2015 und „Vorsicht mit der Heimat!“ von 2018.
[2] =[gemessene Ortdosisleistungen – 0,114 (Hintergrundstrahlung)] x [8 (Stunden im Freien) + 0,4 (angenommen, dass die Ortdosisleistung im Innen 40 % der Ortdosisleistung im Freien beträgt) x 16 (Stunden im Innen)] x 365 (Tage eines Jahres) ÷ 1000 (Umrechnung von μSV auf mSv)
(Die 1. Veröffentlichung: Strahlentelex Nr. 734-735 / 31. Jahrgang, 3. August 2017, S. 01-06. Es wurde noch dazu teils ergänzt.)