Die menschenleere Stadt und die wilde Natur

Tagebuch eines japanischen Journalisten von fukumoto masao (2017)

Ich wollte unbedingt die süd­lich von Minamisoma liegen­de Kleinstadt Nami’e besich­tigen, da der ganze Stadtteil an der Küste vom Tsunami weg­gespült wurde. Wie schon in dem vorherigen Kapitel erwähnt, wurde ein Teil der Stadt erst Ende März dieses Jahres (2017) für die Rücksiedlung frei­gegeben, und der westliche Teil der Stadt gehört noch zum für rückkehrunmöglich gehaltenen Sperrgebiet, da der Jahresdo­siswert noch weiter 20 Milli­sievert pro Jahr (mSv/a) über­schreiten kann.

Küstenregionen der Präfektur Fukushima
(gezeichnet von TANAKA Yu)

Die Stadt Nami’e

Am 11. März 2011 zählte die Stadt mehr als 21.000 Ein­wohner, und jetzt wohnen dort nur 361 Menschen in 253 Haushalten (Stand: Ende Au­gust 2017). Das heißt nur cir­ca 1,7 Prozent der Einwohner sind in die Heimat zurückge­kommen, und die meisten Rückkehrer sind alt und woh­nen allein.

Als ich vor dem Bahnhof stand, sah ich fast keine Men­schen. Vor dem Bahnhofsge­bäude fegt der Bahnhofsange­stellte mit dem Besen, und am Vorplatz wartet ein Kleinbus, der nach Bedarf als Taxi fährt. Ganz selten sieht man ein Au­to. Als ich dort war, sah ich nur einen kleinen Lastkraft­wagen vorbeifahren. Die Fuß­gänger-Ampelanlagen sind to­tal verrostet. Insgesamt sieht es aber dort ganz ordentlich aus. Das ist wahrscheinlich auf die Dekontaminationsar­beit zurückzuführen. Die An­zeige der Ortsdosisleistung am Messpunkt schwankt trotzdem um 0,3 Mikrosievert pro Stunde (μSv/h).

Als ich den Bahnhofsvorplatz zu Fuß verließ, kam ich an verwüsteten Parkplätzen und Häusern vorbei. Nun wurde mir klar, dass in den Häusern keine Menschen wohnen. Da seit mehr als 6 Jahren keine Menschen mehr dort sind, ist es gut vorstellbar, dass dort tausende Mäuse oder Insekten leben. Gleich nach der Kata­strophe sollen auch Nutztiere wie Schweine in den Häusern gewesen sein, um etwas Ess­bares zu suchen. Man kann die Mäuse und Insekten nur be­kämpfen, indem man die Häu­ser abreißt. Ich sah deshalb unterwegs hin und wieder freie Flächen an den Straßen. Die Straßen sind offenbar be­reits saniert worden, nur die Stra­ßenmarkierungen sehen ganz neu aus. Aber wenn ich noch stehende Häuser betrachte, dann sehe ich sofort, dass sie menschenleer sind und alles total verwüstet ist. Die Fenster und die Eingangstüren sind geschlossen, aber die Glas­scheiben sind teilweise zer­brochen, und ich konnte se­hen, wie unordentlich es drin­nen ist.

Der Journalist SUGITA Kazu­to [1] fuhr mich dann zur Küs­te. Unterwegs sah ich eine weiße „Fabrik“. Das ist die Verbrennungsanlage mit der Lagerhalle, in der radioaktiv belasteter Schutt und Müll verbrannt werden. Dadurch soll das Müllvolumen verrin­gert werden. Gegen die Er­richtung der Anlage soll es auch in der näher liegenden Stadt Minamisoma heftige Widerstände gegeben haben, da man befürchtet hat, dass trotz eines Spezialfilters radi­oaktive Stoffe über den Schornstein wieder in die Luft geblasen und verbreitet wer­den. Dort wird auch der Haus­müll aus Minamisoma ver­brannt, der ebenfalls radioak­tiv belastet ist.

Die Verbrennungsanlage und die Lagerhalle

Das Stadtgebiet Ukedo

An der Küste wurde ich sehr traurig. Ich sah im ganzen Areal nur Unkräuter mit we­nigen verwüsteten Häusern. Es gibt noch ein riesengroßes Lager mit schwarzen Säcken voll radioaktiv belastetem Schutt und Müll. Das ganze Stadtgebiet Ukedo wurde vom Tsunami vollständig wegge­spült.

Vorn sah ich ein ver­wüstetes Schulgebäude. Das ist die Grundschule Ukedo, die von der Küste nur circa 300 Meter entfernt ist. An je­nem Tag waren 82 Schüler und 19 Lehrer in der Schule, als der Tsunami kam. Glückli­cherweise konnten sie sich al­le retten.

Als ich dort ein Foto machte, sah ich nur Unkräuter im Dis­play der Kamera. Ich dachte, dass ich vorne nur das Lager mit schwarzen Säcken photo­graphierte. Nachdem ich spä­ter alle dort gemachten Fotos in den Computer herunterge­laden hatte, bemerkte ich, dass das Foto mit dem Lager auch einen Friedhof zeigt. Die Grabsteine, die normalerweise mehr als 1,5 Meter hoch sind, sind durch hoch gewachsene Unkräuter verdeckt, und nur die Spitzen der Grabsteine sind gerade noch zu sehen. Eine weiße buddhistische Fi­gur ist auch aufgestellt. Die meisten Grabsteine sehen ganz neu aus, wie auf den Friedhöfen in den anderen Or­ten. Man hat nach der Kata­strophe die Grabsteine neu aufgestellt, hatte aber wegen der Sperrung wenig Gelegen­heit, sie zu pflegen.

Im Gebiet an der Küste ist die Ortdosisleistung nicht mehr so hoch. Der Wert liegt unter 0,13 μSv/h. Aber das ganze Gebiet ist doppelt stark betrof­fen, nämlich nicht nur vom Tsunami, sondern auch vom AKW-Unfall. Das Gebiet liegt vom AKW circa 10 Kilometer entfernt und war lange Zeit Sperrzone, obwohl dort seit langem für den Dammbau und im Lager für schwarze Säcke gearbeitet wird, in denen sich radioaktiver Schutt und Müll befindet. Da man dort keine Möglichkeit mehr hat zu wohnen, ist es dort menschen­leer. Die Wiederherstellung der Bewohnbarkeit und die Rücksiedlung der Einwohner scheint nicht mehr möglich. Ich kann mir kaum vorstellen, dass man dort alles wieder aufbauen kann.

Inzwischen ist dort die wilde Natur zurückgekehrt. Als SUGITA mich dort umher­fuhr, beobachtete ich, wie die Natur ohne die menschliche Herrschaft wächst. Mischlinge zwischen Haus- und Wild­schweinen sollen auch gese­hen worden sein.

Der Fluss Odaka

Normalerweise kommen Lach­se 4 bis 5 Jahre später zum Laichen aus dem Meer in den Fluss zurück, in dem sie auf­gewachsen sind. In den meis­ten japanischen Flüssen wer­den die zurückkehrenden Lach­se für die künstliche Befruch­tung und zum Ablaichen ge­fangen, und die Lachsbrut wird in den Fluss zurückgege­ben.

In den Flüssen, die sich in der Sperrzone befanden oder be­finden, kann nach der Kata­strophe das künstliche System durch die Menschen nicht mehr funktionieren. Die Lach­se, die seit einigen Jahren in die Flüsse der Sperrzone zu­rückkommen, sind vorher in der Sperrzone auf natürliche Weise entstanden. Weibliche Lachse legen im Fluss Eier. Dann kommen Männchen und ergießen ihren Samen darüber. Die Weibchen bedecken dann die Eier mit Hilfe der Schwanzflosse mit Sand und Kies. Wenn alles erledigt wur­de, sterben die Fische. Dann sind im und am Fluss tote Fische zu beobachten. Dieser natürliche Prozess für das weitere Leben ist sehr stark und schön.

Ein toter Lachs im Fluss Odaka
(Foto: SUGEETA Kajuto [2])

Dieser Prozess ist in Japan so nicht mehr zu erleben, aber zum Beispiel im Fluss Odaka, dessen Bezirk noch bis Juli 2016 gesperrt war, kann man ihn doch wieder beobachten. Das fasziniert SUGITA. Er hat dort 13 Tage lang mit einer Videokamera das Laichen der Lachse aufgenommen und daraus einen Dokumentarfilm gemacht. In seinem Film wird die zurückgekehrte wilde Natur vor dem Hintergrund des Wiederaufbaus gezeigt, als ob die Menschen wieder die Natur beherrschen wollten. Der Kontrast macht mich nachdenklich.

Als wir nach Minamisoma zu­rückfuhren, hielten wir unter­wegs vor einer Bürobaracke, in der niemand mehr arbeitet. An der Glasscheibe der Ein­gangstür stand „Elektrizitäts­versorgungsunternehmen TOHOKU, KKW-Vorberei­tungszentrale Nami’e-Odaka“. Dort sollte ein neues Kern­kraftwerk gebaut werden.

Das verlassene Büro von TOHOKU

Stattdessen werden in den Gebieten an der Küste, in de­nen vom Tsunami alles weg­gespült wurde, vom größten japanischen Gasversorger To­kyo Gas riesengroße Wind­parks geplant. Insgesamt soll in der Präfektur Fukushima die Windenergie-Leistung cir­ca 500 Megawatt betragen. Das ist etwas mehr als die des Blocks 1 im Unfall-AKW Fukushima Daiichi.

Anmerkungen:

[1] Siehe den Absatz „Ein Wanderjournalist“ im Kapitel „Das Viertel der Alten“.

[2] Der Künstlername von SUGITA.

(Die 1. Veröffentlichung: Strahlentelex Nr. 740-741 / 31. Jahrgang, 2. November 2017, S. 01-03. Es wurde noch dazu teils ergänzt.)

Tagebuch