Wie viel wert ist die Heimat?
Die Gerichtsverfahren nach der AKW-Katastrophe in Japan
Tagebuch eines japanischen Journalisten von fukumoto masao (2018)
Nach der AKW-Katastrophe sind mehr als sieben Jahre vergangen. In wenige Sperrgebiete wird eine Rücksiedlung noch für unmöglich gehalten. Obwohl alle anderen Sperrgebiete inzwischen für die Rückkehr freigegeben wurden, sind noch mehr als 45.000 Menschen nicht in ihre Heimat zurückgekehrt. Davon leben knapp 34.000 Menschen außerhalb der Präfektur Fukushima. [2] Sie sind aufgrund der radioaktiven Belastung zwangsweise oder freiwillig evakuiert.
Wie ich mehrmals in meinen früheren Artikeln im Strahlentelex berichtet habe [3], bekommen die Zwangsevakuierten nur noch ein Jahr lang nach der Freigabe eines Sperrgebietes für die Rücksiedlung Entschädigungszahlungen. Da die letzte Freigabe Ende März 2017 erfolgte, bekommen jetzt die evakuiert lebenden Betroffenen aus den für die Rücksiedlung freigegebenen Sperrgebieten keine Entschädigung mehr. Sie gelten jetzt als freiwillig evakuiert. Für die freiwillig Evakuierten wurde die kostenlose Zurverfügungstellung einer Wohnung oder eines Wohnhauses Ende März 2017 eingestellt.
Wer trägt die Verantwortung für die AKW-Katastrophe?
Für die Zahlung der Entschädigung ist die Betreiberfirma des Unfall-AKWs Tepco zuständig, und die Entschädigungen wurden und werden noch im Namen der Firma bezahlt. Die Höhe der Entschädigung wurde individuell nach einer Interimsrichtlinie der japanischen Regierung festgelegt, und die dafür notwendigen Finanzmittel wurden zuerst und werden weiterhin zum großen Teil vom japanischen Staat zur Verfügung gestellt. [4]
Nach der Interimsrichtlinie für die Entschädigung bekam und bekommt jeder Zwangsevakuierte monatlich 100.000 Yen (ca. 770 EUR). Ferner bekamen zum Beispiel die Betroffenen aus dem für rücksiedlungsunmöglich gehaltenen Sperrgebiet 7 Millionen Yen (ca. 54.000 EUR) als einmalige Zahlung. Dazu wurden noch zusätzlich der Grund und Boden sowie bewegliche Anlagen entschädigt.
Aber alle Betroffenen finden die geleisteten beziehungsweise noch zu leistenden Entschädigungszahlungen gemessen an ihrem Leiden als zu wenig, und das führte zu Unmut.
Dagegen ist die Betreiberfirma Tepco der Auffassung, dass man die so besonders hohe Flutwelle des Tsunamis nicht habe vorhersehen können. Wenn diese Auffassung akzeptiert würde, dann wäre die AKW-Katastrophe höhere Gewalt, und die Firma Tepco könnte sich zu einem Großteil von ihrer Verantwortung befreien.
Die Nutzung der Kernenergie in Japan wird auch vom Staat stark gefördert. Deshalb stellt sich die Frage, ob auch der japanische Staat für die Katastrophe verantwortlich ist.
Nach der AKW-Katastrophe ist die Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes nicht mehr möglich. Die Heimat ist nicht mehr so, wie es dort früher war. Man hat damit seine Heimat und die damit verbundene Gesellschaft verloren. Wie ist so etwas zu entschädigen? Das soll auch juristisch geklärt und festgelegt werden.
Die Gerichtsverfahren
Es gibt heute circa 30 Klagen in Form von Sammelklagen, mit denen mehr Entschädigungszahlungen verlangt werden. Sie umfassen insgesamt mehr als 12.000 Betroffene. Die Kläger sind sowohl Zwangs- als auch freiwillig Evakuierte, die nun überall in Japan wohnen. Sie schließen sich jeweils an ihren neuen Wohnorten zu einer Klage zusammen.
Von den zivilrechtlich laufenden Gerichtsverfahren ist das erste Urteil im März 2017 in Maebashi gefallen, einer mehr als 110 Kilometer nordwestlich von Tokio entfernt liegenden Stadt. Seitdem wurden in der 1. Instanz bisher insgesamt 7 Urteile verkündet. Die einzelnen Klagen und deren Ergebnisse sind in der Tabelle 1 zusammengefasst.
• Maebashi:
Im Gerichtsverfahren in Maebashi klagten Zwangs- und freiwillig Evakuierte gemeinsam und verlangten vom Staat und der Firma Tepco einheitlich ein Schmerzensgeld in Höhe von 10 Millionen Yen (ca. 77.000 EUR) pro Person [6]. Obwohl das Gericht sowohl der Firma Tepco, als auch dem Staat die Verantwortung zusprach, wurden für die Höhe der Entschädigungen die Maßstäbe der staatlichen Interimsrichtlinie für rechtmäßig erklärt.
• Chiba:
Für den erlittenen Verlust ihrer Heimat forderten die jetzt auf der Halbinsel Chiba lebenden Zwangs- und freiwillig Evakuierten ebenfalls ein einmaliges Schmerzensgeld in Höhe von 10 Millionen Yen (ca. 77.000 EUR) pro Person sowie ein monatliches Schmerzensgeld in Höhe von 500.000 Yen (circa 3.800 EUR) für die Evakuierung. Obwohl eine Vorhersehbarkeit der hohen Tsunami-Flutwelle vom Gericht bejaht wurde, wurde die Pflicht zur Vermeidung solcher Katastrophen auf die Wirtschaftlichkeit der für die Vermeidung notwendigen Investition beschränkt. Damit wurde dem Staat keine Verantwortung zugewiesen. Das ist bisher der einzige Fall, in dem keine Verantwortung des Staates festgestellt wurde.
Für den Verlust der Heimat wurde nur den Evakuierten, für die die Rücksiedlung noch nicht möglich ist, ein Schmerzensgeld bis zu 10 Millionen Yen (ca. 77.000 EUR) pro Person zugesprochen. Das bedeutet, dass die zugesprochene Summe 3 Millionen Yen (ca. 23.000 EUR) mehr beträgt als nach der staatlichen Interimsrichtlinie. Für die Evakuierung wurden monatlich bis zu 180.000 Yen (ca. 1.400 EUR) festgesetzt.
• Fukushima:
In der Präfektur Fukushima findet das größte Gerichtsverfahren statt, das unter dem Aufruf „Gebt uns unser Leben zurück! Gebt uns unsere Region zurück!“ geführt wird. Hier wurde nicht nur das Schmerzensgeld für den Verlust der Heimat und für die Evakuierung, sondern auch eine monatliche Entschädigung von 50.000 Yen (ca. 380 EUR) pro Person bis zur Wiederherstellung des Zustandes vor der Katastrophe gefordert.
Aber diese Forderung nach Endschädigung bis zur Wiederherstellung wurde abgewiesen, obwohl die Richter dafür Sympathie zeigten. Juristisch ist auch nicht klar bestimmt, wie das Gerichtsurteil vollstreckt werden soll.
Das Gericht urteilte, dass der Staat und die Firma Tepco den AKW-Unfall hätten vermeiden können, wenn sie genügend Gegenmaßnahmen ergriffen hätten. Außerdem wurde den freiwillig Evakuierten wesentlich mehr Entschädigung zugesprochen als nach der staatlichen Interimsrichtlinie. Den südlich in der Präfektur Fukushima lebenden Einwohnern, etwa in der Stadt Shirakawa, die bisher nicht entschädigt worden waren, wurde auch eine Entschädigung zugesprochen.
• Tokio (Februar 2018):
Hier haben die Betroffenen aus dem Sperrgebiet Odaka in der Stadt Minamisoma [7] nur gegen die Betreiberfirma Tepco geklagt. Man hatte angenommen, dass es bis zur Verkündung eines Urteils länger dauert, wenn man auch den Staat anklagen würde.
Sie haben eine Entschädigung von 33 Millionen Yen (ca. 250.000 EUR) pro Person gefordert, da die veränderte Lebensgrundlage auch nach der Rücksiedlung nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Das soll Schmerzensgeld für den Verlust der Heimat sein.
Die Firma Tepco betrachtete die bereits nach der staatlichen Interimsrichtlinie gezahlte Entschädigung von 8,5 Millionen Yen (ca. 65.000 EUR) pro Person als angemessen, aber das Gericht verurteilte sie, noch 3,3 Millionen Yen (ca. 25.000 EUR) zusätzlich zu zahlen. Der Vorsitzende Richter begründete das damit, dass das Lebensinteresse und damit ein Grundrecht verletzt wurden, wenn die bis zur AKW-Katastrophe aufgebaute Lebensgrundlage nach der Rücksiedlung verändert bleibt.
• Kyoto:
Die Kläger waren fast nur freiwillig Evakuierte aus der Präfektur Fukushima und den um Fukushima liegenden Präfekturen wie Miyagi, Tochigi, Ibaragi und Chiba.
Den freiwillig Evakuierten wurde eine Entschädigung zugesprochen, aber als einmalige Zahlung wurden nur 1 Million Yen (ca. 7.700 EUR) festgesetzt, obwohl 5,5 Millionen Yen (ca. 42.000 EUR) gefordert worden waren.
• Tokio (März 2018):
Hier haben auch fast nur freiwillig Evakuierte geklagt.
Obwohl das Gericht die Verantwortung des Staates und der Betreiberfirma bejaht hat, hat es behauptet, dass für die freiwillig Evakuierten die Entschädigung zeitlich begrenzt werden soll, da man nur am Anfang die gesundheitlichen Auswirkungen nicht habe einschätzen können und die Evakuierung deshalb nur für eine begrenzte Zeit gerechtfertigt werden könne. So wurde die Evakuierung und damit auch die Entschädigung bis Dezember 2011 für die freiwillig Evakuierten und bis August 2012 für Minderjährige (unter 18 Jahre) und Schwangere sowie deren Familien als gerechtfertigt und rechtmäßig erklärt.
Ihnen wurden bis zu diesen Zeitpunkten monatliche Mehrkosten für den Lebensunterhalt von 10.000 Yen (ca. 77 EUR) und als Beschaffungskosten für Möbel 50.000 bis 100.000 Yen (ca. 385 bis 770 EUR) zugesprochen. Die Entschädigungsforderungen für die Kinder, die bis zu dieser Zeit noch nicht geboren und die Betroffenen, die anderweitig bereits entschädigt worden waren, wurden abgewiesen.
• Iwaki:
Die Zwangsevakuierten aus den Sperrgebieten empfinden sich nach der staatlichen Interimsrichtlinie als zu wenig entschädigt und damit benachteiligt. Deshalb haben sie mehr Entschädigung gefordert, und zwar monatliche Zahlungen in Höhe von 500.000 Yen (ca. 3.850 EUR) und eine einmalige Zahlung in Höhe von 20 Millionen Yen (ca. 150.400 EUR) als Schmerzensgeld für den Verlust der Heimat.
Obwohl das Gericht den Verlust der Heimat anerkannt hat, hat es sich bezogen auf die Forderungen wenig bewegt. Das Gericht hat den Zwangsevakuierten nur eine Mehrzahlung in Höhe von 1,5 Millionen Yen (ca. 11.500 EUR) zugesprochen.
Zusammenfassung
Die Verantwortung des Staates und der Betreiberfirma für die Katastrophe wurde von den Gerichten überwiegend bejaht. Es ist sehr wichtig, dass dabei die langfristige Erdbebenbewertung der Regierung, die im Juli 2002 erstellt worden war, als Grundlage für staatliches Handeln anerkannt wurde. Man hätte nach dieser Bewertung davon ausgehen können, dass das Unfall-AKW durch einen mehr als 10 Meter hohen Tsunami angegriffen wird und entsprechend Vorsorge treffen müssen. Die Katastrophe wäre damit vermeidbar gewesen.
Die Regierung ist der Auffassung, dass die langfristige Bewertung zwischen den Experten umstritten ist und damit nicht zuverlässig sei. Das Landgericht Kyoto hat dagegen die Auffassung vertreten, dass die Regierung in solch einem Fall die Bewertung engagiert hätte überprüfen müssen, wenn sie die Bewertung als fragwürdig angesehen hätte. Damit hätte die Regierung zur besseren Sicherheit beitragen können.
Durch die Gerichtsentscheidungen ist die Verantwortung des Staates für die Katastrophe klarer, und das bisherige staatliche Verwaltungshandeln für die nukleare Sicherheit wurde damit als problematisch angesehen.
Für die Verantwortung der Betreiberfirma Tepco haben die Kläger vergeblich versucht, Tepco wegen Fahrlässigkeit verurteilen zu lassen. Das japanische Gesetz für die Entschädigung von nuklearen Schäden befreit jedoch die AKW-Betreiber generell vom Vorwurf der Fahrlässigkeit und nimmt keine Beweisführung für den Vorwurf von Vorsatz und Fahrlässigkeit an. Damit verbietet das Gesetz die Verurteilung der AKW-Betreiber wegen Vorsatz oder Fahrlässigkeit. Das erschwert die Feststellung der konkreten Verantwortung von Tepco. Im Rahmen des Gesetzes wurde Tepco zwar die Verantwortung zugesprochen, aber nicht der Vorsatz oder die Fahrlässigkeit.
Was die Entschädigung angeht, ist zu begrüßen, dass der Anspruch von den freiwillig Evakuierten auf eine Entschädigung anerkannt wurde. Außerdem wurde teilweise ein Schmerzensgeld für den Verlust der Heimat zugesprochen, obwohl die staatliche Interimsrichtlinie für die Entschädigung gar kein Schmerzensgeld für den Verlust der Heimat vorsieht.
Wie aus der Tabelle 1 ersichtlich, liegen aber die gerichtlich festgesetzten Entschädigungswerte höchstens bei 10 Prozent der geforderten Werte. Der Gerichtszuspruch bewegt sich damit im Rahmen der staatlichen Interimsrichtlinie oder nur etwas darüber. Das weicht von den einzelnen Leiden der Betroffenen wesentlich ab. Das bedeutet auch, dass alles, was man vor Ort gesellschaftlich aufgebaut hat, gerichtlich nicht als entschädigungswürdig angesehen wurde.
Professor YOKEMOTO Masafumi von der Stadtuniversität Osaka, der über die Entschädigungsproblematik für die Fukushima-Katastrophe schon einige Bücher herausgegeben hat, kritisiert, dass das Leiden der Betroffenen juristisch nicht richtig bewertet worden ist, obwohl es eindeutig durch die AKW-Katastrophe verursacht worden war. Man müsse die Schäden und das Leiden ernsthaft betrachten, wie sie wirklich sind. [8]
Eigentlich haben die Gerichtsverfahren die Aufgabe, die abweichenden Standpunkte zwischen den Klägern und den Beklagten juristisch zu klären. Die Abweichungen sind insbesondere dadurch entstanden, dass die Interimsrichtlinie für die Entschädigung nur durch die Verursacher, nämlich durch den Staat und die Betreiberfirma Tepco, erstellt wurde.
Man muss jetzt noch in der 2. Instanz die Abweichungen abklären. Ich frage mich jedoch, wozu die Gerichtsverfahren da sind, sollten die Gerichte Tatsachen nicht richtig einschätzen können, wie Professor Yokemoto kritisiert.
Umweltpolitisch gesehen, findet er es trotzdem sehr wichtig, dass die Verantwortung des Staates für die Katastrophe juristisch eindeutig bestätigt wird. Das könne für die Entschädigung und die weiteren Unterstützungen der Betroffenen zu einer gesetzlichen Regelung führen. [8] Ich fände es gut, wenn das so zustande kommt, weil ich befürchte, dass sich die japanische Regierung nach der Freigabe für die Rücksiedlung gar nicht mehr um die Betroffenen kümmern will. Nach meiner Überzeugung müssen sich dann die Betroffenen unbedingt an der Gesetzgebung beteiligen. Aber ich habe Zweifel, ob die japanische Regierung politisch bereits in der Lage ist, eine Bürgerbeteiligung anzuerkennen.
Anmerkungen:
[2] nach dem Schnellbericht der Präfektur Fukushima über die Katastrophe, Stand Ende Mai 2018, http://www.pref.fukushima.lg.jp/uploaded/life/352634_859966_misc.pdf
[3] Siehe z.B. die Kapitel „Wie schwer ein Haus zu sanieren ist“ und „Die Sehnsucht nach der Heimat“.
[4] Siehe das Kapitel „Wie schwer ein Haus zu sanieren ist“
[5] Nach den Informationen von der
Mainich-Zeitung (https://mainichi.jp/articles/20180316/k00/00e/040/267000c, https://mainichi.jp/articles/20170923/k00/00m/040/099000c, https://mainichi.jp/articles/20180323/k00/00m/040/107000c),
Zeitung Akahata (http://jcpre.com/?p=15279, https://www.jcp.or.jp/akahata/aik17/2018-03-16/2018031601_02_1.html, http://www.jcp.or.jp/akahata/aik17/2017-10-11/2017101101_03_1.html),
Japan Institute of Constitutional Law (http://www.jicl.jp/hitokoto/backnumber/20180115.html),
Nikkei-Zeitung (https://www.nikkei.com/article/DGXLASDG22H89_22092017CR8000/),
Asahi-Zeitung (https://www.asahi.com/articles/DA3S13406544.html, https://www.asahi.com/articles/ASL275FM5L27UTIL02K.html, https://www.asahi.com/articles/ASL3D7HP8L3DPLZB02D.html, https://www.asahi.com/articles/ASL3J3GVRL3JUGTB004.html).
Für den Text über die einzelnen Gerichtsverfahren wurde es auch den Quellen nachgeschlagen.
[6] Für die weiteren Summen gilt auch die Summe pro Kopf, auch wenn die Summe ohne „pro Kopf“ angegeben ist.
[7] Siehe das Kapitel „Das Viertel der Alten“.
[8] Nach dem Interview durch die Zeitung Akahata (http://jcpre.com/?p=15279).
(Die 1. Veröffentlichung: Strahlentelex Nr. 756-757 / 32. Jahrgang, 5. Juli 2018, S. 05-08.)
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