Perinatalsterblichkeit in Japan – Fortschreibung der Trendanalysen: 2001 bis 2018
Hagen Scherb, Fukumoto Masao
- Hintergrund und Fragestellung
Nach dem Atomunfall von Fukushima reichten bereits zwei Jahre Beobachtungszeit aus, um in kontaminierten Gebieten erste Hinweise auf relative Anstiege der Totgeburtlichkeit nach 12 Wochen der Schwangerschaft kombiniert mit der Gesamtsterblichkeit innerhalb des ersten Lebensjahres von Neugeborenen festzustellen [1]. Weiterhin wurde inzwischen gezeigt, dass die Perinatalsterblichkeit – Totgeburt nach 22 Wochen der Schwangerschaft oder Tod in der ersten Woche nach der Geburt – in den sechs hochbelasteten Präfekturen Iwate, Miyagi, Fukushima, Ibaraki, Tochigi und Gunma ab Januar 2012 um ca. 15 Prozent gegenüber einem stabilen säkularen Abwärtstrend sprunghaft und langfristig angestiegen war [2-5]. Der vorliegende Beitrag soll die Trendanalysen für die Perinatalsterblichkeit in Japan mit den seit Ende 2019 vorliegenden Daten bis zu dem Jahr 2018 aktualisieren und fortschreiben.
- Daten
Das japanische Ministerium für Gesundheit und Arbeit erstellt die Statistik über die Bevölkerungsentwicklung („Jinko Dotai Toukei“) (http://www.mhlw.go.jp/toukei/list/81-1.html). Im Rahmen dieser Statistik veröffentlicht das Statistische Amt Japans regelmäßig die absoluten monatlichen Geburtenzahlen der 47 japanischen Präfekturen (http://www.e-stat.go.jp/SG1/ estat/NewList.do?tid=000001028897, siehe Liste in Abbildung 1). Die offizielle Geburtenstatistik umfasst die folgenden fünf einschlägigen Indikatoren der frühkindlichen Sterblichkeit im ersten Lebensjahr:
- Spontane Totgeburtlichkeit ab der 12. vollendeten Schwangerschaftswoche
- Totgeburtlichkeit ab der 22. vollendeten Schwangerschaftswoche
- Tod innerhalb der ersten Woche nach der Geburt
- Tod innerhalb der ersten vier Wochen nach der Geburt
- Tod innerhalb des ersten Lebensjahres
- Statistische Auswertung
Anhand von amtlichen, in der Regel vollständigen flächendeckenden demographischen Statistiken und mit Hilfe von speziellen Fehlbildungs- oder Krebsregistern können Hinweise auf strahleninduzierte genetische Effekte in der Bevölkerung gefunden werden, wenn sich in räumlicher Nähe von Nuklearanlagen oder nach der Freisetzung von Radioaktivität Morbiditäts- und Mortalitätsraten oder auch das Geschlechtsverhältnis bei der Geburt verändern [6-8]. Insbesondere mit der von uns entwickelten Methode „Analytical Ecological Epidemiology“ können Trends in den Häufigkeiten von Totgeburten, perinatal verstorbenen Neugeborenen und Fehlbildungen, sowie Trends im Geschlechtsverhältnis der Lebendgeburten in unterschiedlich hoch belasteten Regionen synoptisch betrachtet und im Hinblick auf eine Dosis-Wirkungs-Beziehung räumlich-zeitlich analysiert werden [9]. Findet man auf diese Weise signifikante Dosis-Wirkungs-Beziehungen zwischen der radioaktiven Belastung und der Häufigkeit von genetischen Merkmalen, das heißt, treten nach der Freisetzung von Radioaktivität in höher radiologisch belasteten Populationen mehr Krankheiten oder mehr Todesfälle auf, so sind das Indizien für kausale Zusammenhänge zwischen Strahlung und Krankheit bzw. Tod. Es zeigten sich zum Beispiel hochsignifikante, im wesentlichen lineare Anstiege der Fehlbildungshäufigkeit mit der Höhe der radioaktiven Belastung nach Tschernobyl in Bayern [10].
Die monatlichen Statistiken der Perinatalsterblichkeit in Japan haben wir in [2, 3] für die neun moderat oder hoch exponierten Präfekturen Chiba, Fukushima, Gunma, Ibaraki, Iwate, Miyagi, Saitama, Tochigi und Tokio sowie für das übrige Japan von 2001 bis 2014 bzw. 2017 untersucht und dabei festgestellt, dass es einen ansteigenden biologischen Gradienten der perinatalen Mortalität von unbelasteten, über moderat exponierte, bis hin zu den hoch belasteten Präfekturen gibt. Die entsprechenden ins Jahr 2018 fortgeschriebenen jährlichen Statistiken finden sich in der Tabelle 1. Die Abbildungen 2 bis 4 zeigen die monatlichen Verläufe mit den Effekten, d.h. Aufwärtssprünge in den Trends ab 2012, und den jeweiligen statistischen Maßzahlen. Alle in unseren bisherigen Publikationen dargestellten Befunde zur Perinatalsterblichkeit in Japan vor und nach Fukushima werden durch die Datenerweiterung bis zum Jahr 2018 bestätigt und erhärtet. Insbesondere belegt die Zusammenschau der Abbildungen 2 bis 4 eine ökologische Dosis-Wirkungsbeziehung der Perinatalsterblichkeit mit der mittleren Dosis-Rate in den Präfekturen im Juni 2011, siehe Abbildung 1 und Abbildung 5. Eine logistische Regression über die einzelnen Präfekturen ergibt eine odds ratio pro µSv/h für den Anstieg der Perinatal-Mortalität mit der Dosis-Rate von 1.41 mit 95%-Konfidenz-Intervall (1.213, 1.631) und p-Wert < 0.0001. Das heißt die Perinatalsterblichkeit steigt proportional um ca. 40% pro µSv/h, wie gemessen im Juni 2011, an.
- Fazit
In den von den Natur- und Reaktorkatastrophen in Japan im März 2011 heimgesuchten japanischen Präfekturen steigen 9 Monate bzw. 10 Monate nach der Freisetzung von Radioaktivität die Frühsterblichkeit bzw. die Perinatalsterblichkeit je nach Belastungsgrad der Präfekturen sprunghaft um circa 5 bis 20 Prozent gegenüber den in ganz Japan zugrundeliegenden Abwärtstrends der einschlägigen Frühsterblichkeitsziffern hochsignifikant an. In den nicht oder nur gering belasteten Präfekturen sind diese Effekte nicht nachweisbar. Die hier aktualisierten und dargestellten Befunde sind als robust anzusehen, weil sie im Wesentlichen unabhängig sind von der speziellen Gruppierung der Präfekturen, von der Wahl der frühkindlichen Mortalitätsindikatoren oder von der Frage, ob die Effekte 9 Monate oder erst 10 Monate nach Fukushima am stärksten ausgeprägt auftreten. Damit steht fest, dass in Japan nach Fukushima ganz ähnliche Effekte beobachtet werden können wie in Europa nach Tschernobyl [11, 12]. Dies sollte Anlass sein, in Japan die weitere Entwicklung der strahleninduzierbaren genetischen Effekte beim Menschen, also konkret die verschiedenen Indikatoren der Früh- und Perinatalsterblichkeit, sowie die angeborenen Fehlbildungen bei der Geburt weiterhin genau zu registrieren und zu untersuchen [13, 14].
Die Annahme von ‚Schwellendosen‘ für strahleninduzierbare mutagene Effekte, also die Auffassung der nationalen und internationalen Strahlenschutzkommissionen, dass genetische Schäden wie Totgeburtlichkeit und Fehlbildungen erst nach Belastungen mit einigen cSv auftreten (http://www.ssk.de/SharedDocs/Beratungsergebnisse_PDF/1984/1984_01.pdf?__ blob=publicationFile) und nicht wie Krebs bereits durch geringste Dosen ausgelöst werden können, ist mit den Befunden nach Tschernobyl, und jetzt auch mit den hier aktualisierten Befunden nach Fukushima, widerlegt. Die Fehleinschätzung der nationalen und internationalen radiologischen Institutionen kann u.a. damit erklärt werden, dass Totgeburten und angeborene Fehlbildungen im Gegensatz zu den Krebserkrankungen zu den sogenannten deterministischen Strahlenschäden und nicht zu den stochastischen strahleninduzierbaren Effekten gerechnet werden. Die nationalen und internationalen Strahlenschutzinstitutionen ignorieren strahleninduzierte schädliche Einwirkungen auf die Ei- und Samenzellen des Menschen sowie die strahlenbedinge Beeinträchtigungen der peri-konzeptionellen biologisch-genetischen Abläufe, wie z.B. die Spermatogenese oder die Embryogenese. Unter diesem Blickwinkel sind alle derzeit gültigen Strahlenschutzkriterien grundlegend falsch und müssen reformiert werden. Dies hat hohe Priorität für die genetische Gesundheit der Bevölkerung [15] und den Schutz der natürlichen Lebensbedingungen auf der Erde, insbesondere im Hinblick auf die Freisetzung von Radioaktivität beim Rückbau von Nuklearanlagen und bei der ‚Endlagerung‘ radioaktiver und insbesondere hochradioaktiver Abfälle mit langen Halbwertszeiten, siehe dazu auch eine Stellungnahme im „Dialog Endlagersicherheit des Bundesumweltministeriums“.
Tabellen
Abbildungen
Literatur
[1] M. Fukumoto, K. Voigt, R. Kusmierz, H. Scherb, Folgen von Fukushima: Totgeburten und Säuglingssterblichkeit in Japan, Strahlentelex Thomas Dersee, Berlin – Schöneiche, 2014, http://www.strahlentelex.de/Stx_14_650-651_S03-06.pdf
[2] H. Scherb, K. Mori, K. Hayashi, Increases in perinatal mortality in prefectures contaminated by the Fukushima nuclear power plant accident in Japan: A spatially stratified longitudinal study, Medicine (Baltimore) 95(38) (2016) e4958.
[3] H. Scherb, K. Mori, K. Hayashi, Comment on ‚Perinatal mortality after the Fukushima accident‘, J Radiol Prot 39(2) (2019) 647-649.
[4] A. Korblein, H. Kuchenhoff, Perinatal mortality after the Fukushima accident: a spatiotemporal analysis, J Radiol Prot 39(4) (2019) 1021-1030.
[5] H. Scherb, K. Mori, F. Masao, K. Hayashi, K. Voigt, R. Kusmierz, Folgen von Fukushima: Totgeburten, Perinatalsterblichkeit und Säuglingssterblichkeit in Japan, Aktualisierung der Trendanalysen von 2001 bis 2015 , Strahlentelex Thomas Dersee, Berlin – Schöneiche, 2014, http://www.strahlentelex.de/Stx_17_722-723_S01-07.pdf
[6] H. Scherb, R. Kusmierz, K. Voigt, Ökologische Studien, Trendanalysen und Hypothesentests – das Geschlechtsverhältnis der Neugeborenen in Japan von 1930 bis 1960, Strahlentelex, Thomas Dersee, Berlin – Schöneiche, 2015, http://www.strahlentelex.de/Stx_15_674-675_S04-06.pdf.
[7] H. Scherb, K. Voigt, R. Kusmierz, Ionizing radiation and the human gender proportion at birth-A concise review of the literature and complementary analyses of historical and recent data, Early Human Development 91(12) (2015) 841-850.
[8] C. Spix, S. Schmiedel, P. Kaatsch, R. Schulze-Rath, M. Blettner, Case-control study on childhood cancer in the vicinity of nuclear power plants in Germany 1980-2003, Eur J Cancer 44(2) (2008) 275-84.
[9] H. Scherb, K. Voigt, Analytical ecological epidemiology: exposure-response relations in spatially stratified time series, Environmetrics 20(6) (2009) 596-606.
[10] H. Scherb, K. Voigt, Fehlbildungsrate in Bayern vor und nach dem Unfall von Tschernobyl, Strahlentelex Thomas Dersee, Berlin – Schöneiche, 2014, http://www.strahlentelex.de/Stx_14_652-653_S01-05.pdf
[11] H. Scherb, E. Weigelt, Congenital Malformation and Stillbirth in Germany and Europe Before and After the Chernobyl Nuclear Power Plant Accident, Environmental Science and Pollution Research, Special Issue 1 (2003) 117-125.
[12] H. Scherb, E. Weigelt, I. Brüske-Hohlfeld, European stillbirth proportions before and after the Chernobyl accident, International Journal of Epidemiology 28(5) (1999) 932-940.
[13] K. Murase, J. Murase, A. Mishima, Nationwide Increase in Complex Congenital Heart Diseases After the Fukushima Nuclear Accident, J Am Heart Assoc 8(6) (2019) e009486.
[14] K. Murase, J. Murase, K. Machidori, K. Mizuno, Y. Hayashi, K. Kohri, Nationwide Increase in Cryptorchidism After the Fukushima Nuclear Accident, Urology 118 (2018) 65-70.
[15] I. Schmitz-Feuerhake, C. Busby, S. Pflugbeil, Genetic radiation risks: a neglected topic in the low dose debate, Environmental Health and Toxicology 31 (2016) e2016001.
[16] T.J. Yasunari, A. Stohl, R.S. Hayano, J.F. Burkhart, S. Eckhardt, T. Yasunari, Cesium-137 deposition and contamination of Japanese soils due to the Fukushima nuclear accident, Proceedings of the National Academy of Sciences 108(49) (2011) 19530.
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