verdrängt und vergessen?
Tagebuch eines japanischen Journalisten von fukumoto masao (2014)
Auch drei Jahre nach dem verheerenden Erdbeben und dem Tsunami in Japan lassen sich die langfristigen Folgen der Atomkatastrophe von Fukushima noch nicht erahnen. Noch immer gibt es kaum Zugangsmöglichkeiten zur Reaktorruine und immer wieder gelangt kontaminiertes Wasser in den Pazifik. Dessen ungeachtet verkündete Japans Premierminister Abe Shinzo1 im September 2013 während seiner Bewerbungsrede für die olympischen Sommerspiele 2020 vor dem Internationalen Olympischen Komitee (IOC) in Buenos Aires voller Überzeugung: „Lassen Sie mich Ihnen versichern: Wir haben die Situation komplett unter Kontrolle. Der Unfall hatte noch nie und wird nie Auswirkungen in Tokio haben.“2
Als die Entscheidung für Tokio gefallen war, verwies Abe auf einer IOC- Pressekonferenz zwar darauf, dass es noch das Problem mit dem kontaminierten Wasser gebe. Es sei aber ausgeschlossen, dass dies gesundheitliche Schäden anrichte. Schließlich würde sich die Kontamination auf den Bereich vor dem AKW Fukushima Daiichi begrenzen.3 Dieser Auftritt steht beispielhaft dafür, wie die japanische Regierung die Lage seit der Atomkatastrophe 2011 verharmlost. Denn es kann nicht die Rede davon sein, dass die Regierung oder die Betreibergesellschaft Tepco die „Situation unter Kontrolle“ haben. Nach wie vor ist völlig unklar, wie die hochradioaktiv verseuchte Reaktorruine rückgebaut werden soll – die Radionuklide wie Plutomium 239 strahlen noch mehr als 20.000 Jahre. Auch ist noch immer unbekannt, in welcher Situation sich die geschmolzenen Brennelemente befinden. Doch solange diese dort bleiben, verhindert nur die permanente Kühlung der Reaktorkerne die erneute Kettenreaktion einer Kernspaltung, bei der Unmengen an Radioaktivität austreten würden.
Tag für Tag fällt deshalb radioaktiv verstrahltes Kühlwasser an, ohne dass es ein Konzept für die Entsorgung des verunreinigten Wassers gibt. Die kontaminierten Wassermassen von mittlerweile mehr als 360.000 Tonnen sind für Tepco zu einem unlösbaren Problem geworden, für das eine nachhaltige Lösung nicht in Sicht ist. Zugleich musste das Unternehmen einräumen, dass immer wieder kontaminiertes Wasser aus den Lagertanks austritt und in den Pazifik fließt – und dass dessen Radioaktivität bisweilen noch höher ist, als zuerst mitgeteilt wurde: Im August vergangenen Jahres entwichen rund 300 Tonnen hoch radioaktives Wasser aus den Lagertanks, nach ersten Angaben sollen 80 Mio. Bequerel (Bq) Betastrahler pro Liter4 gemessen worden sein. Schon dieses Ereignis wurde nach der Internationalen Bewertungsskala für Nukleare Ereignisse (INES) als Ernster Störfall (Stufe 3) bewertet. Anfang Februar dieses Jahres ließ Tepco allerdings verlauten, dass die tatsächliche Strahlenbelastung sogar fast fünfmal höher gewesen sei. Schon im Dezember 2013 musste Tepco mitteilen, dass sich die Strahlenwerte des Grundwassers am AKW innerhalb eines Monats verdoppelt haben.
Um das kontaminierte Wasser zu reinigen, sollen die Radionuklide in zwei Stufen herausgefiltert werden. Doch bislang funktioniert die zweite Stufe, in der überwiegend Betastrahler abgetrennt werden, noch nicht erwartungsgemäß. Und selbst wenn dies gelingen sollte, enthielte das aufbereitete Wasser noch immer hoch radioaktives Tritium (ebenfalls ein Betastrahler). Dennoch soll dieses dann im Pazifik entsorgt werden – obwohl die ökologischen Folgen nicht vorhersehbar sind.
Gesundheitliche Folgen (Zysten in der Schilddrüse)
Auf dem Land gibt es hingegen schon Indizien für strahleninduzierte Erkrankungen. Anfang Februar veröffentlichte die Präfektur Fukushima die jüngsten Ergebnisse der Schilddrüsenuntersuchungen von Kindern, die im März 2011 jünger als 18 Jahre waren. Bei 75 von 254.000 Kindern wurden Schilddrüsenkrebserkrankungen (einschließlich Verdachtsfällen) festgestellt, von denen knapp die Hälfte bereits operiert wurde. Insgesamt mehr als 46 Prozent aller untersuchten Kinder im Zeitraum zwischen 2011 und 2013 hatten Zysten in der Schilddrüse: 2011 waren es 36 Prozent, 2012 knapp 45 und 2013 schon mehr als 55 Prozent.5
Normalerweise erkranken Kinder selten an Schilddrüsenkrebs. Deshalb erfasst beispielsweise das deutsche Kinderkrebsregister diese Erkrankung nicht. Da es in Japan weder Vergleichsdaten aus der Zeit vor der Katastrophe noch Daten für die von der radioaktiven Kontamination nicht betroffenen Regionen gibt, kann man nur schwer feststellen, ob die Schilddrüsenkrebserkrankungen bei den Kindern zugenommen haben oder nicht. Die Präfektur Fukushima betonte, dass die Schilddrüsenerkrankungen bei den Kindern nicht von der erhöhten Strahlenbelastung nach der Katastrophe verursacht wurden – eine plausible Erklärung für den Anstieg von Zysten seit 2011 lieferte sie jedoch nicht. In Weißrussland und der Ukraine stiegen rund fünf Jahre nach der Atomkatastrophe von Tschernobyl die Zahlen von Schilddrüsenkrebserkrankungen bei kleinen Kindern drastisch an. Die Entwicklung in Fukushima muss deshalb sehr genau beobachtet werden.
Der frühere Forscher des Umweltinstituts München, Alfred Körblein, und der Forscher des Helmholtz-Zentrums München, Hagen Scherb, haben nach Tschernobyl die gesundheitlichen Auswirkungen auf Deutschland und insbesondere Bayern untersucht. Sie stellten unter anderem eine signifikante Zunahme der Frühsterblichkeit und der Totgeburten sowie einen deutlichen Rückgang der Lebendgeburten nach dem GAU fest.6 Nach der Analyse der vom japanischen Ministerium für Gesundheit und Arbeit veröffentlichten Statistik über die Bevölkerungsentwicklung lassen sich Ähnlichkeiten zwischen Japan und Westdeutschland nach Tschernobyl feststellen: So gab es in der Präfektur Fukushima und in umliegenden Präfekturen 9 bis 19 Monate nach dem Reaktorunfall eine signifikante Zunahme der Säuglingssterblichkeit. In den 9 Monaten nach dem Unfall gingen die Lebendgeburten in Fukushima und der angrenzenden Präfektur Miyagi um mehr als das Dreifache zurück, in vier benachbarten Präfekturen um das Zweifache; zugleich gab es eine starke Zunahme von Totgeburten in den am höchsten belasteten Präfekturen.7 Zudem ist seit dem Jahr 2013 auch eine Verschiebung im Geschlechterverhältnis zu verzeichnen.
Diese Indizien werden oft ignoriert, da die Zusammenhänge zwischen der Strahlenbelastung und diesen Fällen wissenschaftlich nur schwer nachweisbar sind. Der nach der Katastrophe von der Präfektur Fukushima einberufene Sicherheitsberater Prof. Yamashita Shunichi behauptet, dass eine effektive Strahlendosis unter 100 Millisievert (mSv) keine gesundheitlichen Auswirkungen hat. Die im Normalfall für die Öffentlichkeit gültige effektive Strahlendosis beträgt aber lediglich ein mSv pro Jahr.
Die Rückkehr der Atomkraft
Wie aber steht es um die Zukunft der japanischen Atomkraft? Zwar wurden direkt nach der Fukushima-Katastrophe alle in Betrieb befindlichen Atomreaktoren in Japan abgeschaltet. Doch bereits ein gutes Jahr darauf – im Juli 2012 – wurden trotz heftiger Widerstände in der Bevölkerung zwei Reaktoren wieder hochgefahren, die im September 2013 wegen einer Revision allerdings wieder abgeschaltet wurden. Seitdem ist in Japan kein Reaktor mehr in Betrieb. Dies soll sich jedoch alsbald ändern: Nachdem im Juli 2013 ein neuer Sicherheitsstandard in Kraft getreten ist, der eine umfassende Überprüfung sämtlicher Reaktoren vorsieht, beantragten die Energieunternehmen die Sicherheitsprüfung
von zehn Reaktoren. Inzwischen sollen 17 von insgesamt 48 Reaktoren von der japanischen Atomaufsicht NRA überprüft werden, darunter auch zwei Reaktoren vom Betreiber des havawrierten AKW in Fukushimam, Tepco, und das „gefährlichste Atomkraftwerk der Welt“8 in Hamaoka in Mitte Japans. Sofern ein Reaktor die Prüfung übersteht, kann er wieder in Betrieb genommen werden, allerdings müssen die Kommunen am Standort dem zustimmen. Die Überprüfungen verzögern sich jedoch, da nur schwer festzustellen ist, ob es unter den Reaktoren aktive geologische Verwerfungen gibt. Doch die Wirtschaft drängt zur schnellen Wiederinbetriebnahme. Sie argumentiert, dass die internationale Wettbewerbsfähigkeit der japanischen Wirtschaft unter dem teuren Strom aus importiertem Gas, Öl und Kohle leide. Nur mit der Rückkehr zur Atomenergie könne sowohl die Versorgungssicherheit wiederhergestellt werden als auch der nötige wirtschaftliche Aufschwung gelingen.9
Premierminister Abe stößt – ungeachtet der Proteste der Bevölkerung – ins gleich Horn: Umgehend nach seiner Wahl im Dezember 2012 kippte er die Entscheidung der Vorgängerregierung, bis 2040 aus der Atomenergie auszusteigen. Anfang dieses Jahres betonte er vor dem Parlament noch einmal, wie wichtig es sei, die Atomkraftwerke wieder einzuschalten: Er könne nicht sagen, dass Japan sofort aus der Atomenergie aussteigen soll.10 Ferner kündigte seine Regierung Anfang Februar dieses Jahres an, die drei neuen Reaktoren fertig bauen zu lassen, deren Bau nach der Havarie im März 2011 unterbrochen worden war. Die Wirtschaft rechnet mit der Wiederinbetriebnahme der ersten Reaktoren schon in diesem Frühjahr.
Zugleich setzt sich Abe für den Export der japanischen Atomtechnologie ein. Persönlich warb er dafür in der Türkei, Polen, Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten, in Indien und Vietnam, um der japanischen Atomindustrie eine Zukunft zu sichern. So hat Mitsubishi bereits einen Vorvertrag für den Bau eines Reaktors in der Türkei in der Hand. In Großbritannien kaufte Hitachi von den deutschen Energieunternehmen Eon und RWE die britische Firma Horizon Nuclear Power; Toshiba steigt bei der Firma NuGeneration ein, die den Bau eines Atomkraftwerks auf dem britischen Nuklearkomplex Sellafield plant. Hitachi und Toshiba wollen so bald wie möglich in Großbritannien neue Reaktoren bauen [1].
Optimismus und Verdrängung
Nach dem Reaktorunfall sind in Japan viele Bürgerinitiativen entstanden, die sich überwiegend für den Schutz von Kindern vor der radioaktiven Belastung engagieren. Außerdem wurden in vielen Orten Japans sogenannte Bürgermessstellen gegründet, die die radioaktive Belastung von Lebensmitteln messen – inzwischen sind es mehr als 100. Allerdings gibt es zwischen den seit langem aktiven Atomkraftgegnern und den neu entstandenen Bürgerinitiativen eine große Kluft; sie können nur schwer miteinander kooperieren. Bisweilen kommt es sogar zur Spaltung, seit die linksradikale Gruppierung Chukakuha/Nazen die Bürgerbewegung unterwandert. Zudem versucht die Wirtschaft ihren Einfluss auf die Bewegung auszubauen und bietet den Bürgerinitiativen und NGOs finanzielle Unterstützung an. Oft greifen diese zu, da sie drei Jahre nach der Katastrophe finanzielle Schwierigkeiten haben – und verlieren damit ihre Unabhängigkeit.
Kurzum: Die kritischen Stimmen werden immer leiser. Dazu tragen auch die japanischen Medien bei: Sie berichten immer weniger über Fukushima und verharmlosen die Katastrophe. Inzwischen betrachten sie die deutsche Energiewende und den Atomausstieg sogar als gescheitert: Mit Blick auf die höheren Strompreise wird vielerorts argumentiert, dass auch Deutschland ohne Atomkraft nicht auskommen wird.
Diese Sicht hat auch den Ausgang der Gouverneurswahl in Tokio am 9. Februar 2014 beeinflusst: Der frühere japanische Premierminister Hosokawa Morihiro wollte die Wahl zu einem Referendum gegen die Atomenergie machen – und landete lediglich auf dem dritten Platz, obwohl er von drei früheren Premierministern unterstützt wurde. Ein weiterer Atomkritiker, der von den Sozialdemokraten und Kommunisten unterstützt wurde, kam auf Rang zwei. Gewonnen hat hingegen der frühere Gesundheitsminister Masuzoe Yoichi, der vom Regierungschef Abe und seinen Liberaldemokraten unterstützt wurde [2] .
Auch bei den beiden Parlaments- und den zwei weiteren Gouverneurswahlen, die seit der Havarie in Japan stattfanden, stimmten die japanischen Wähler für die Befürworter der Atomenergie – obwohl die Mehrheit der Bevölkerung nach verschiedenen Umfragen für den Atomausstieg ist.
Hat der Reaktorunfall in Japan also nichts verändert? Es sieht tatsächlich alles danach aus, dass die Japaner vor allem eine starke Wirtschaft suchen. Insbesondere die Kommunen an den AKW-Standorten wünschen eine schnelle Wiederinbetriebnahme. Sie sind optimistisch, dass die Atomkatastrophe von Fukushima ein Einzelfall war – und Atomenergie eigentlich sicher ist. Um ihre Steuereinnahmen wieder zu erhöhen, verdrängen sie die Angst vor den unbeherrschbaren Gefahren der Atomenergie. Doch gerade in Japan ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Erde das nächste Mal bebt.
Anmerkungen:
1 Auf Wunsch des Autors werden in dem Artikel japanische Namen entsprechend der japanischen Schreibweise in der Reihenfolge von Nach- und Vorname geschrieben.
2 Premierministeramt, Präsentation durch den Premierminister Abe bei der IOC-Vollversammlung, www.kantei.go.jp/jp/96_abe/statement/2013/0907ioc_presentation.html.
3 Zusammenfassung der Aussagen des Premierministers Abe auf der Pressekonferenz in Buenos Aires, in: „Mainichi Shinbun“, 8.9.2013, www.mainichi.jp.
4 Zum Vergleich: Der in der Ukraine gültige Grenzwert für Strontium 90 (ein Betastrahler) im Trinkwasser liegt bei 2 Bq/Liter.
5 Vgl. Mitteilung über die Durchführung der Schilddrüsenuntersuchungen, Präfektur Fukushima, 7.2.2014.
6 Vgl. Alfred Körblein, Perinatalsterblichkeit – Monatsdaten, www.alfred-koerblein.de; Hagen Scherb und Eveline Weigelt, Zunahme der Perinatalsterblichkeit, Totgeburten und Fehlbildungen in Deutschland, Europa und in hochbelasteten Regionen nach 1986, GFS- Forschungszentrum für Umwelt und Gesundheit, Vortrag in Loccum, 27.9.2001; vgl. auch: Fukumoto Masao, Deutschland, seit 28 Jahren schwach verstrahlt – Tschernobyl findet noch kein Ende, Tokio 2014 (auf japanisch).
7 Alfred Körblein, Erhöhte Säuglingssterblichkeit und Rückgang der Geburtenrate in Japan nach Fukushima, in: „Strahlentelex“, 650-651, 6.2.2014, www.strahlentelex.de.
8 Vgl. Carsten Germis, „Gefährlichstes Atom- kraftwerk der Welt“ soll zurück ans Netz, www.faz.net, 17.2.2014.
9 Tatsächlich aber führt nicht zuletzt die Wirtschaftspolitik der „Abenomics“ mit der lockeren Geldpolitik dazu, dass die Importe teurer werden. Vgl. Siegfried Knittel, Japan: Zurück ins Gestern mit Abenomics?, in: „Blätter“, 7/2013, S. 23-26.
10 Premierminister betonte die Wichtigkeit der Wiederinbetriebnahme, in: „Sankei Shinbun“, 28.1.2014.
[1] Den drei großen japanischen Atomunternehmen ist als Exportgeschäft kein Reaktorbau gelungen. Alle haben sich schon von ihren Plänen getrennt.
[2] Masuzoe ist im März 2016 wegen der überteuerten Kosten für seine Auslandsreisen als Gouverneur und der mehrmaligen Verwendungen der für seine politischen Aktivitäten gespendeten Gelder zum privaten Zweck zurückgetreten.
(Der Beitrag erschien im Monatsmagazin „Blätter für deutsche und international Politik“, 3/2014, S. 21-24.)
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