Zwei Frauen mit unterschiedlichen Ansichten
Tagebuch eines japanischen Journalisten von fukumoto masao (2015)
Ich fahre im September 2015 nach Japan und will dort über die 70-jährige Nachkriegsgeschichte in Deutschland sprechen. Anfang August habe ich schon darüber an einer Universität in Kyoto einen Vortrag gehalten und habe noch 4 Vorträge an weiteren Universitäten vor.
Da ich gerade vor gut einem Monat ein neues Buch in Japan herausgegeben habe, will ich auch bei anderen Gelegenheiten über das Buch sprechen. Dieses Buch heißt „Eine kleine Revolution, Erlebnisse der DDR-Bürger (durch mich ins Deutsche übersetzt)“. Ich habe vor dem Mauerfall in der DDR gearbeitet und aus meinen damaligen Erfahrungen heraus und anhand von Interviews mit mehr als 30 ehemaligen DDR-Bürgerinnen und -Bürgern das Buch verfasst. Dabei handelt es sich um die Zeiten vor, während und nach der Wendezeit.
Ich will diese Gelegenheit nutzen, um wieder Fukushima zu besuchen. Aber aus Termingründen kann ich mich nicht mehrere Tage in Fukushima aufhalten. Ich kann zwischen den Vorträgen nur zwei Tagesausflüge aus Tokio nach Fukushima machen.
Ich fahre zuerst an einem Tag nach Fukushima, um das Café Agri zu besuchen. Man braucht mit dem japanischen Superexpress „Shinkansen“ für die Fahrt von Tokio nach Fukushima knapp 2 Stunden.
Es ist heiß in der Stadt Fukushima wie im Sommer. Ich will aber zu Fuß zum Café Agri gehen, um mich unterwegs umzuschauen, wie es jetzt in der Stadt aussieht.
Viele Autos fahren auf der Straße, aber ich sehe ganz selten Fußgänger auf dem Gehweg. Das ist wahrscheinlich auf die Hitze zurückzuführen. Auf beiden Seiten der Straße finde ich auch keinen offiziellen Messpunkt. Eigentlich dachte ich, dass es unterwegs viele Messpunkte gibt.
Ich laufe weiter. Dann finde ich endlich einen Messpunkt in einem kleinen Park. Ich gehe zum Messpunkt, der die Ortsdosisleistung von ca. 0,2 µSv/h zeigt. Ich habe eigentlich noch mit einem höheren Wert gerechnet, aber der Wert ist auf jeden Fall höher als normal. Eigentlich soll der Wert ohne AKW-Katastrophe bei ca. 0,07 µSv/h liegen. Z.B. in Berlin soll sich der Wert auf ca. 0,1 µSv/h belaufen. Die Hintergrundstrahlung ist in Japan normalerweise niedriger als in Berlin. Dann ist der von der Atomkatastrophe verursachte zusätzliche Strahlenwert noch höher als die Differenz zwischen den beiden Strahlenwerten in Fukushima und in Berlin.
Das ist der einzige Messpunkt, den ich unterwegs finden konnte. Es ist außerdem bemerkenswert, dass der Messpunkt sich an einem nicht so auffälligen Standort befindet. Wenn ich an einem Messpunkt nicht interessiert gewesen wäre, hätte ich den Messpunkt auch nicht gefunden.
Wiedersehen
Ich bin schon ca. 40 Minuten unter der starken Hitze gelaufen, habe aber das Café Agri noch nicht erreicht. Die Temperatur muss bestimmt weit mehr als 30 Grad Celsius betragen. Ich bin ziemlich erschöpft.
Ich gehe von der Hauptstrasse in eine schmale Nebenstrasse hinein. Dann sehe ich ein altes Haus. Das sieht wie ein deutsches Fachwerkhaus aus. Das soll das Café Agri sein.
Ich wusste, dass Shuko und Miyuki in der Stadt Fukushima absichtlich ein altes Haus gesucht haben, wie das möglichst dem alten Dorfcafé in Iitate ähnlich sehen sollte. Ich bin noch nie in dem Dorfcafé in Iitate gewesen, bin aber davon überzeugt, dass es ihnen gelungen ist, ein zu ihrem Geschmack passendes altes Haus gefunden zu haben.
Ich gehe ins Café hinein. Es ist dort ungefähr halbvoll. Es ist früh am Nachmittag. So ist es wahrscheinlich in der Zeit normal, denke ich. Es ist mit einem guten Geschmack sehr schön eingerichtet. Es gefällt mir.
Da ich Miyumi nicht finden kann, frage ich eine Kellnerin, ob Miyuki da ist. Sie sagt, sie sei da und komme gleich.
Nach einigen Minuten kommt Miyuki zu mir. Wir freuen uns über das Wiedersehen. Sie sagt, dass sie auch weitere Frauen eingeladen hat, die im vergangenen Jahr in Berlin waren. Sie weiss aber nicht genau, wer kommt.
Fast gleich danach ist ein mir bekanntes Gesicht eingetreten. Ich erinnere mich noch daran, dass sie auch in Berlin war, und dass sie eine der wenigen war, die unbedingt so bald wie möglich nach Hause zurückkehren wollte.
Zwei verschiedene Ansichten vor mir
Ich verstehe sofort, was für einer Situation ich ausgesetzt bin. Miyuki ist der Meinung, dass man ganz und gar nicht nach Hause zurückkehren soll, da es dort noch stark verstrahlt ist. Dagegen will die andere Frau sogar sofort nach Hause, nach Iitate zurück.
Wir begrüßen uns friedlich miteinander. Miyuki verlässt dann sofort ihren Platz. Die Frau fängt dann an, mir zu erzählen, was sie nach der Rückkehr vorhat. Sie will gleich nach der Rückkehr wieder Landwirtschaft betreiben. Sie versucht jetzt, zu prüfen, welche Nutzpflanzen im kontaminierten Boden geeigneter sind, ohne Bedenken, dass die Pflanzen dadurch verseucht werden.
Pflanzen sollen auf zwei verschiedene Weisen wachsen. Bei der einen wächst ihre Wurzel senkrecht nach unten tief in den Boden. Die Art nimmt weniger Radioaktivität auf. Bei der anderen wächst die Wurzel nicht tief in den Boden, sondern gleich unter der Bodenoberfläche horizontal. Diese Art nimmt damit mehr Radioaktivität vom Boden auf. Ich fragte sie, welche davon sie für ihr Vorhaben einsetzen möchte. Die Pflanzennamen hat sie genannt, aber als Landwirtschaftslaie kenne ich die Pflanzen gar nicht. Sie will von den Ernten Tee produzieren und verkaufen. Die Maschinen dafür soll sie bereits besorgt haben. Sie schenkt mir eine kleine Portion Probentee in einer kleinen Papiertüte mit einem Flyer. Alles schien bereits gut vorbereitet und ist professionell gemacht.
Ich danke ihr für das kleine Geschenk. Ich kannte schon den Zusammenhang zwischen den Eigenschaften der Wurzeln und der Aufnahme der Radioaktivität in die Pflanze. Aber ich habe mich dazu gar nicht geäußert. Ich konnte ihr bisher nur zuhören.
Miyuki kommt zurück zu ihrem Platz. Ich weiss, dass sie nicht in die Heimat zurück will, da es für sie nicht sicher ist, wie weit es dort noch verstrahlt ist. Ich nehme an, dass sie zuerst nicht hören wollte, dass die Frau mir über Ihr Vorhaben erzählt.
Zwei Frauen sitzen jetzt vor mir, die unterschiedlich mit der Verstrahlung umgehen wollen. Die eine will zurück, und die andere will evakuiert bleiben.
Was soll ich jetzt machen?
Ich bemühe mich, die beiden möglichst von der Fukushima-Problematik abzulenken. Ansonsten kann ich ihnen nur zuhören.
Glücklicherweise kommen dann noch zwei weitere Frauen dazu. An die beiden Gesichter erinnere ich mich noch. Sie waren auch im vergangenen Jahr mit Miyuki in Berlin. Frau Hasegawa und ihre Schwippschwägerin. Ich bin erleichtert und werde wahrscheinlich dadurch gerettet von der wirren Situation mit zwei unterschiedlichen Meinungen.
Wir begrüßen uns, und ich frage sie, wie es ihnen geht. Ihnen soll es entsprechend gut gehen. Frau Hasegawa deutet an, wie schwer und belastend es ist, wenn man evakuiert in einem Provisorium lebt. Sie ist als Verwalterin für eine provisorische Wohnsiedlung tätig. Sie wünscht, dass besser wäre, wenn alle Einwohner und Einwohnerinnen aus Iitane gemeisam an einen sicheren Ort umsiedeln und das Leben neu aufbauen würden. Damit könnte man in der gewohnten Gesellschaft leben. Miyuki spendet uns die selbst gemachten Torten und Kaffee. Das hat sehr gut geschmeckt.
Ich muss noch am selben Tag nach Tokio zurückfahren und kann nicht mehr lange im Café bleiben. Frau Hasegawa bietet mir an, mich zum Bahnhof Fukushima zu fahren.
Im Zug nach Tokio fühle ich mich irgendwie erleichtert und befreit von der bedrückenden Situation. Ehrlich gesagt will ich unterwegs gar nicht an Fukushima denken.
Miyuki hat mir nachher berichtet, dass zwischen den Frauen ein heftiger Streit entbrannt war, als sie im Jahr zuvor in Bielefeld mit dem Tax unterwegs waren. Sie sollen heftig gestritten haben, ob man nach Iitate zurückkehren soll oder nicht.
Miyuki hat mir nicht verraten, zwischen wem und wem das war.
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