Die Sehnsucht nach der Heimat

Tagebuch eines japanischen Journalisten von fukumoto masao (2017)

Nach dem Aufenthalt in Mina­misoma im Juni 2017 musste ich über Fukushima nach Tokio zurückfahren, da ich am nächsten Vormittag vom Flughafen Tokio-Narita nach Berlin zurückfliegen wollte. Für die Rückfahrt ent­schied ich mich für die Bus­fahrt über das Dorf Iitate nach Fukushima.

Gemeinden der Präfektur Fukushima
(gezeichnet von TANAKA Yu)

Beim Dorf Iitate wollte ich unbedingt vorbeischauen. Es wurde zu Ende März 2017, gerade knapp 3 Monate zuvor, für die Rücksiedlung freige­geben. Ich bin seit einigen Jahren mit einem Ehepaar aus Iitate, ICHISAWA Miyuki und Shuko, befreundet und wollte vom Bus her mal kurz schauen, wie das Café „Agri“ aussieht, das die beiden dort besitzen. Nach der Zwangs­evakuierung verließen sie das Café und betreiben jetzt ein neues Café in der Stadt Fukushima, das „Agri“ heißt. „Agri“ stammt aus dem englischen Wort „Agriculture“.

Im Vordergrund schwarze Plastiksäcke mit kontaminierter Bo­denerde und Schutt, Café Agri hinten in der Mitte links, dahinten in der Mitte Wohnhaus, daneben rechts Kaffeerösterei
Foto: ICHISAWA Shuko, Mai 2016

An meinem Vortrag in Mina­misoma hatte eine Gruppe Studentinnen von der Ferris Universität Yokohama teilge­nommen, die von der As­sistant Professorin TAKAO Ayako geleitet wurde. Die Gruppe war frühmorgens nach Iitate gefahren, um dort die „Fukushima Saisei no Kai“ (Gesellschaft zum Wiederauf­bau Fukushima) zu besuchen, die sich für die Rückkehrer und den Wiederaufbau in der Heimat aktiv engagiert. Ich hatte noch ein Gespräch in Minamisoma mit dem ehema­ligen AKW-Arbeiter, Herrn SHIRAHIGE [1], und hätte mich eigentlich danach an die Gruppe anschließen wollen. Aber das war zeitlich viel zu knapp, und ich musste darauf verzichten. Wir sprachen ab, dass wir uns im Café Agri in der Stadt Fukushima treffen, da die Gruppe das Ehepaar Ichisawa kennen lernen woll­te.

Das Dorf Iitate

Das Dorf Iitate gehört zur Küstenregion der Präfektur Fukushima, liegt aber im Ge­birge und vom Unfall-AKW mehr als 30 Kilometer ent­fernt. Es zählte deshalb am Anfang nicht zum Sperrgebiet. Man stellte aber später fest, dass es dort hoch verstrahlt ist. Das Dorf wurde einen Monat nach der Katastrophe als „planerisches Sperrgebiet“ bezeichnet, in dem die Jah­resstrahlendosis von 20 Milli­sievert (mSv) überschritten werden kann. Man begann je­doch erst Mitte Mai 2011 mit der Evakuierung. Vor der Ka­tastrophe zählte Iitate über 6.000 Einwohner, mehr als die Hälfte von ihnen evakuierten in die Stadt Fukushima, so wie das Ehepaar Ichisawa. Vor der Zwangsevakuierung hatte jedoch circa ein Drittel der Einwohner bereits selb­ständig Iitate verlassen.

Das dortige Sperrgebiet war überwiegend ein für die Rück­siedlung vorzubereitendes Ge­biet, in dem Gesundheitsein­richtungen wie Krankenhäuser in Betrieb genommen werden dürfen. So blieb dort das Al­tenheim „Iitate Home“, nach Erteilung einer Sondergeneh­migung, immer in Betrieb, mit der Auflage, dass die 33 Heimbewohner nur im Haus bleiben dürfen und die Be­schäftigten jeden Tag aus ei­nem Nicht-Sperrgebiet pen­deln. Es gab vorher lange Diskussionen, aber man mein­te, dass die alten Bewohner sich dadurch am wohlsten fühlen würden. Zudem blieben in dem Dorf noch weitere 11 Einwohner zurück, die nicht evakuierten.

Das Dorf Iitate war die einzi­ge betroffene Gemeinde, de­ren Bürgermeister KANNO Norio trotz der Bedenken we­gen der radioaktiven Belas­tung von sich aus immer wie­der forderte, so bald wie mög­lich das Dorf für die Rück­siedlung freizugeben. Der Bürgermeister ist ein ganz stark engagierter Befürworter des Wiederaufbaus. Wie be­reits erwähnt, wurde das Dorf erst Ende März 2017 für die Rücksiedlung freigegeben, bis auf ein höher belastetes Sperr­gebiet, in das die Rückkehr nicht möglich ist.

Nach Angaben der Gemein­deverwaltung wurden dort Anfang Mai 2017, also einen Monat nach der Freigabe, cir­ca 300 Einwohner gezählt. Davon sollen 259 Rückkehrer sein. Das stimmt nicht, sagte Frau HASEGAWA Hanako, als ich mich mit ihr, dem Ehe­paar Ichisawa und weiteren Frauen aus Iitate im Juni 2017 in einer Kneipe der Stadt Fukushima traf. Sie sagte, die Verwaltung zähle sogenannte Newcomer, wie ehrenamtliche Helfer, als Rückkehrer. Als sie sich bei der Verwaltung da­nach erkundigte, soll die Ver­waltung das zugegeben haben.

Jetzt, nach einem Jahr, wird die Einwohnerzahl getrennt erfasst, und Anfang Mai 2018 690 Rückkehrer sowie 64 Neuzugezogene gezählt. Das bedeutet, dass etwas mehr als 10 Prozent der ehemaligen Einwohner bisher zurückge­kommen sind.

Die neue Schule

Am 1. April 2018 wurde in Iitate eine neu gegründete Schule eröffnet. Die Schule besteht aus einem Kindergar­ten sowie Grund- und Mittel­schule und nimmt zwischen null (Säuglinge) und 15 Jahre alte Kinder auf. Circa 100 Kinder sind es bisher. Die meisten Schüler pendeln je­doch mit dem für die Eltern kostenlosen Schulbus jeden Tag von einem Ort außerhalb des früheren Evakuierungsge­bietes nach Iitate.

Die Verwaltung veröffentlicht nicht, wie viele Kinder in Iita­te wohnend zur Schule gehen, aber nach inoffizieller Infor­mation sollen nur 6 Schulkin­der direkt in Iitate wohnen. Das sei auf folgenden Um­stand zurückzuführen: Die Evakuierten können noch bis zu einem Jahr nach der Frei­gabe für die Rücksiedlung provisorisch in ihrer früheren Heimat angemeldet bleiben. Erst danach müssen sie ent­scheiden, ob sie sich ummel­den, das heißt erst zu diesem Zeitpunkt müssen sie sich of­fiziell entscheiden, ob sie um­gesiedelt bleiben oder wirk­lich in die frühere Heimat zu­rückkehren wollen.

Das ist für junge Familien mit Kindern eine schwierige Ent­scheidung, da ihre Kinder nur dann die Schule am neuen Wohnort besuchen dürfen, wenn die Eltern sich amtlich umgemeldet haben. Wenn die Eltern die Anmeldung in der alten Heimat beibehalten wol­len, dann müssen die Kinder dort zur Schule gehen.

Die grünen Planen

Als ich mit dem Bus nach Fukushima unterwegs war, sah ich in Iitate viele grüne Planen, mit denen die schwar­zen Säcke mit kontaminierter Bodenerde und Schutt bedeckt sind. Dort sah ich nirgends di­rekt schwarze Säcke, während in den anderen Orten die schwarzen Säcke oft zu sehen waren.

Die Plastiksäcke werden durch die UV-Strahlung brü­chig, wodurch radioaktive Stoffen unkontrolliert ver­streut werden können. Planen dienen zum Schutz der Säcke und damit zu deren Sicherheit.

Grüne Planen und schwarze Säcke vor Ichisawas Wohnhaus und Café, jetzt alles grün bedeckt
Foto: ICHISAWA Shuko, Oktober 2016

Warum sollen die Planen grün sein?

Herr ICHISAWA Shuko sagte mir, wenn schwarze Säcke mit grünen Planen bedeckt sind, dann sind sie nicht mehr auf­fällig, da es auch in der Um­gebung mit Äckern und Wäl­dern grün aussieht. So würden grüne Planen die Natur har­monisieren. Die Behörden hoffen, dass dadurch das Problem mit kontaminierter Bodenerde und Schutt in Ver­gessenheit gerät. Shuko sagte, dass man sich daran gewöhnt und nicht mehr so zornig ist, wenn es nicht mehr so auffäl­lig ist.

Vor seinem Wohnhaus und Café Agri, das am Waldrand steht, sind schwarze Säcke provisorisch gelagert, bis alle ins neu errichtete Zwischenla­ger zwischen Ookuma und Futaba abtransportiert werden. Dafür musste er sein Acker­land zur Verfügung stellen, und der Pachtvertrag musste in diesem Frühjahr verlängert werden. Dabei fragte er die Behörde, wann alles weg­transportiert wird. Bis Ende März 2021, so die Antwort, solle alles verschwinden, aber das sei nur ein Plan, und man könne das jetzt noch nicht ga­rantieren. Das musste er re­signiert zur Kenntnis nehmen.

Das Café Agri

Das Ehepaar ICHISAWA hei­ratete 1980. Er, Shuko, war Gemeindebeamter und half nebenbei seinen Eltern als Bauer, deren Familie traditio­nell nur mit der Landwirt­schaft beschäftigt ist. Und sie, Miyuki, war als Präfekturbe­amtin zuständig für die Ver­besserung der Lebensbedin­gungen bei Bauern und wurde für ihre Ausbildung von der Familie Ichisawa aufgenom­men. So lernten sich Miyuki und Shuko kennen.

Nach der Heirat lebten sie zu­sammen mit der ganzen Fami­lie aus vier Generationen in ihrem Wohnhaus. Nach der Geburt des dritten Kindes musste Miyuki ihren Beruf aufgeben, weil sie der Schwiegermutter nicht mehr zumuten konnte, sich um ihre drei Kinder zu kümmern.

Nach und nach wünschte Shuko, sich voll mit der Landwirtschaft zu beschäfti­gen, aber Miyuki war nicht zufrieden allein mit der Rolle als Frau einer Bauersfamilie. Sie entschieden, sich selb­ständig zu machen, und ka­men auf die Idee, mitten im Gebirge ein Café mit Kaffee­rösterei zu eröffnen. Dann konnte sich Shuko mehr mit der Landwirtschaft beschäfti­gen.

Dafür lernte Miyuki zuerst in einem Café in Tokio, Kaffee zu rösten. Ihr Café in Iitate wurde im November 1992 er­öffnet, und es sollte Agri hei­ßen. Der Name ist aus dem englischen Wort „Agriculture“ (Landwirtschaft) abgeleitet. Gleich begannen sie, geröste­ten Kaffee auch an gastrono­mische Einrichtungen und Firmen in der Region zu lie­fern. Einige Jahre später be­gannen sie damit, auch selbst gebackene Brote, Kekse und Kuchen anzubieten. [2]

Das Café Agri war als Café in der Natur von auswärtigen Gästen sehr beliebt.

Die Schicksalstage

Dann kam der 11. März 2011. Gleich nach dem Erdbeben war die Stromversorgung un­terbrochen, und die Kurier­dienste, die für den Cafébe­trieb notwendige Materialien lieferten, gab es auch wegen Benzinmangel nicht mehr. Das größte Problem war je­doch das verseuchte Trink­wasser. In der von der Ge­meindeverwaltung entnomme­nen Trinkwasserprobe wurde das Gesamt-Cäsium zu 965 Becquerel pro Kilogramm ge­messen. Das war das Aus für das Café, da beim Agri für den Kaffee das vom Gebirge fließende Trinkwasser verwen­det worden war.

Nachdem über das kontami­nierte Trinkwasser in Iitate be­richtet worden war, wurden ihnen plötzlich viele PET-Flachen geliefert. Das waren insgesamt 240 Liter stilles Wasser. Die mit ihnen be­kannten Cafébetreiber schick­ten es dem Agri. Damit konn­te das Café am 28. März 2011 wieder geöffnet werden. Auch die Kunden brachten selbst stilles Wasser mit.

Miyuki und Shuko dachten zunächst trotzdem nicht, dass Iitate hoch verstrahlt ist.

Am 11. April 2011 ordnete aber die japanische Regierung für das Dorf Iitate als planeri­sches Sperrgebiet die Evaku­ierung an. Shuko musste zu­erst seine Beschäftigten kün­digen, und fing sofort an, in der Stadt Fukushima einen Er­satzstandort zu suchen. Er wollte schon einmal auch in einer Stadt ein Café betreiben und hatte auch in der Stadt Fukushima viele Stammkun­den.

Das Problem war die Finan­zierung, weil Shuko und Miyuki alles in Iitate hinter­lassen und für ein neues Café alles neu beschaffen mussten. Die AKW-Betreiberfirma Tep­co zahlte als Entschädigung zuerst vorläufig nur 2,5 Milli­onen Yen (umgerechnet circa 19.000 Euro), aber das war zu wenig, und sie wussten auch nicht, wann die Zahlung er­folgt. Die Regierung bot da­gegen schneller zinsloses Dar­lehen und Zuwendungen an. Die Angebote mussten sie oh­ne Zögern annehmen, obwohl es für sie unbegreiflich war, weshalb man mit Krediten ar­beiten sollte. [2]

Sie zogen erst circa einen Monat später aus Iitate weg. Nachher erfuhr Shuko, dass die Einwohner in Iitate wäh­rend einiger Monate nach der Katastrophe einer kumulierten Strahlung von circa 6 Milli­sievert ausgesetzt gewesen sein sollen.

Anfang Juli 2011 wurde in ei­nem Miethaus in der Stadt Fukushima das neue Café Ag­ri eröffnet. Davor hatten sie unter heftigem Durcheinander leben müssen. Das Café lief gut, und seit Oktober 2015 be­treiben sie ein neues Café Ag­ri in ihrem eigenen Haus in

Fukushima.

Der Neid

Als Miyuki und Shuko die Wohnung in der Stadt Fuku­shima kündigten, bekamen sie überraschend vom Vermieter eine dicke Rechnung. Sie konnten überhaupt nicht ver­stehen, weshalb sie für den Auszug aus der Wohnung so viel zahlen müssen. Der Ver­mieter nannte alle möglichen Gründe, aber so viel war in der Wohnung überhaupt nicht beschädigt worden.

Als Miyuki mit dem Vermie­ter darüber verhandelte, ver­stand sie es schließlich. Der Vermieter war sehr neidisch, weil sie wegen der Nuklearka­tastrophe viel entschädigt worden waren.

Deshalb wollte er von den „reichen“ Entschä­digten viel kassieren. Das war der einzige Grund.

Die Bauersfrau, HASRGAWA Hanako berichtete mir auch über einen ähnlichen Fall. Ihr Mann Kenichi hat sich für die Endschädigung der betroffe­nen Bauern sehr engagiert und erreichte nach langen Ver­handlungen eine Entschädi­gung von 1 Million Yen (um­gerechnet circa 7.700 Euro) pro Kuh. Das war für die be­troffenen Bauern ein Erfolg. Nachdem darüber berichtet worden war, sind die entschä­digten Bauern immer wieder dem Neid von Einwohnern in der Präfektur Fukushima aus­gesetzt, weil man weiß, wie viel Entschädigung ein Bauer bekommt, wenn er zum Bei­spiel 40 Kühe hatte.

Hanako sagte mir zornig, das verursachte in der Präfektur Fukushima einen großen ge­sellschaftlichen Konflikt, und sei damit das typische Fuku­shima-Problem geworden.

Die Dekontamination

Erst 2014 wurde für Ichisawas Wohnhaus in Iitate mit der Dekontamination begonnen. Nicht nur das Wohnhaus, son­dern auch der Bereich inner­halb von 20 Metern um das Haus sollte dekontaminiert werden. Parallel dazu mussten Miyuki und Shuko bewegliche Gegenstände im Haus aus­räumen wie unter anderen Möbel, Haushaltsgeräte, Klei­der, Bettzeug. Alle waren ra­dioaktiv belastet.

Das zusammengestellte Bettzeug
Foto: ICHISAWA Shuko, März 2015

Laut Shuko soll die Dekonta­mination einige zehn Millio­nen Yen (10 Millionen Yen = circa 77.000 Euro) gekostet haben. Selbstverständlich muss­te Ichisawa die Kosten nicht tragen. Die gesamten Kosten für die Dekontamination in dem Dorf sollen circa 350 Milliarden Yen (circa 2,7 Mil­liarden Euro) betragen, und die Kosten pro Kopf in Iitate sollen bei circa 57 Millionen Yen (circa 440.000 Euro) lie­gen. [3] Das ist Wahnsinn. Das wäre zur Unterstützung für die evakuierten Umsiedler besser investiert gewesen.

Trotz der hohen Kosten ist nicht garantiert, dass die De­kontamination vorschriftsmä­ßig vorgenommen wurde. Man musste oft feststellen, dass sehr schlampig gearbeitet wurde. Eigentlich hätten die beiden vor Ort die Dekonta­minationsarbeit überwachen wollen, aber das ging nicht, jeden Tag von Fukushima nach Iitate zu pendeln.

Ichisawas Wohnhaus liegt am Waldrand, und das brachte noch mehr Probleme, weil es unmöglich ist, den Wald zu dekontaminieren. Auch wenn man es versucht, ist es sehr aufwendig, und technisch auch nicht richtig möglich, weil die radioaktiven Stoffe bereits im biologischen Kreis­lauf integriert umlaufen.

Es gab in Iitate ein Pilotpro­jekt zur Dekontamination des Gebirges und Waldes, zu dem auch Ichisawas Gebirge ge­hörte. Man musste dann er­kennen, dass man damit nur einen geringen Effekt erzielen konnte.

Nach der Dekontamination beträgt die Ortsdosisleistung am Wald hinter dem Wohn­haus noch mehr als 1 Mikro­sievert pro Stunde (µSv/h), und vor dem Haus und im Acker soll jetzt der Wert zwischen 0,3 und 0,7 μSv/h liegen, heißt es.

Die Blaubeeren

Shuko baute vor der Katastro­phe in seinem Acker Blaubee­ren (Heidelbeeren) an, und die geernteten Blaubeeren wurden für selbst zu backende Torten verwendet. Nach der Kata­strophe ist das nicht mehr möglich, aber die Ernte hat er noch jedes Jahr.

Die Ernte ließ er immer von der Gemeindeverwaltung mes­sen. Im Juli 2011 lag der Cäsium-Wert noch zwischen 203 und 763 Bq/kg.

Nach der Dekontamination konnte er aber keine Mess­werte mehr erhalten, die Ra­dioaktivität habe unter der Nachweisgrenze des Messge­rätes gelegen.

2017 bekam er aber plötzlich einen Messbericht, der einen Cäsium-Messwert von 7 und 19 Becquerel pro Kilogramm (Bq/kg) auswies. Shuko und Miyuki glauben, dass ihre Blaubeeren jetzt höher konta­miniert sind. Ich fragte sie, ob die Verwaltung jetzt ein neues Messgerät hat. Sie sagten ja. Dann wäre es mög­lich, dass die Nachweisgrenze des alten Messgerätes über 20 Bq/kg lag. Sie wussten es aber nicht. Ich empfahl ihnen, das zu er­mitteln.

Bei der Dekontamination des Ackers wurde die Erde an der Oberfläche erneuert, aber je nach dem Zustand der Pflan­zenwurzeln konnte man die Erde nur teilweise erneu­ern. Shuko vermutet deshalb, dass die geernteten Blaubee­ren unterschiedlich radioaktiv belastet sind.

Die beiden bekommen immer wieder Anfragen, ob sie ge­erntete Blaubeeren überneh­men könnten. Sie haben es je­doch immer abgelehnt und haben auch nicht die Absicht, sie für ihr Café zu verwenden.

Blaubeeren und das Wohnhaus, das gerade dekontaminiert wird
Foto: ICHISAWA Shuko, November 2014

Die Sehnsucht nach der Heimat

Nach der Freigabe für die Rückkehr hat Shuko Sehn­sucht nach dem Boden in der Heimat. Er weiß, dass Iitate noch verstrahlt ist und es viele Probleme gibt. Aber er will sich trotz allem wieder in der Heimat als Bauer betätigen. Er sagte mir, er sei ein geborener Bauer und wolle zum Fami­lienacker zurück. Die Sehn­sucht wird immer stärker.

Im Mai dieses Jahres arbeitete er vor Ort in Iitate mit den an­deren Bauern zusammen, um die Reisfelder zu bewässern. Man denkt noch nicht daran, dort Reis anzubauen, aber aus Sicherheitsgründen ist es not­wendig, zumindest den Was­serkanal sauber zu machen und wild gewachsene Kräuter zu mähen. Das Wasser darf nicht vom Wasserkanal ins Zwischenlager mit den schwarzen Säcken eindringen.

Das vorläufige Zwischenlager und die Wasserkanäle an den Rändern des Agrarweges
Foto: ICHISAWA Shuko, Mai 2018

Ein Drittel der Reisfelder sind als vorläufiges Zwischenlager belegt, und die Gelände sind mit einem Zaun umgeben. Diese Realität musste er dabei erneut wahrnehmen und be­kam dadurch ein Ohnmachts­gefühl. Es scheint, dass er sich trotzdem so auf eine mögliche Rückkehr vorbereitet.

Miyuki weiß, dass Shuko in die Heimat zurück will. Nach ihrer Einschätzung beobachten die anderen Bauern, was Shu­ko vorhat, weil er vor der Ka­tastrophe eine führende Rolle für die Selbstbestimmung der Landwirtschaft in Iitate hatte. Wenn er nach Hause zurück­geht, könnten die anderen ihm folgen.

Nachdem die Studentinnen­gruppe von der Ferris-Univer­sität im Café Agri in Fukushima angekommen war, redeten Shuko und Miyzuki nacheinander vor den Studen­tinnen. Dabei wurde klar, dass Shuko nach Hause zurück will, während Miyuki das für unmöglich hält. Miyuki hat immer noch Angst vor der Radioaktivität. Deshalb will sie noch in der Stadt Fukushima bleiben.

Ich fragte sie anschließend, wie es bei ihnen weitergeht. Sie erklärte spontan: „Wir hal­ten trotzdem irgendwie durch.“ Das war eine starke Botschaft.

Miyuki und Studentinnen
Foto: FUKUMOTO Masao, Juni 2017

Anmerkungen:

[1] Siege das vorherige Kapitel „Wie schwer ein Haus zu sanieren ist“.

[2] 市澤秀耕 (ICISAWA Shuko), 市澤美由紀 (ICHISAWA Miyuki), 椏久里の記録 (Die Chronik des Café Agri), 言叢社 (Genso Verlag), 2013

[3] 中西準子 (NAKANISHI Junko), 原発事故と放射線のリスク学 (Risikowissenschaft für AKW-Unfälle und Strahlungen), 日本評論社 (Nihon Hyoron Verlag), 2014.

Für die Gesamtkosten der Fuku­shima-Nuklearkatastrophe siehe das vorherige Kapitel „Wie schwer ein Haus zu sanieren ist“.

(Die 1. Veröffentlichung: Strahlentelex Nr. 754-755 / 32. Jahrgang, 7. Juni 2018, S. 06-10.)

Tagebuch