Das Viertel der Alten

Tagebuch eines japanischen Journalisten von fukumoto masao (2017)

Es gibt jetzt zwei Möglichkei­ten, mit öffentlichen Ver­kehrsmitteln die Stadt Mina­misoma in der japanischen Präfektur Fukushima zu errei­chen, und zwar von Norden mit der Bahn, oder von der Stadt Fukushima über das Dorf Iitate mit dem Bus. Für die Hinfahrt entschied ich mich für die Bahn und für die Rückfahrt für den Bus.

Küstenregionen der Präfektur Fukushima (gezeichnet von TANAKA Yu)

Die Joban-Linie

Von Norden kommend, muss man zuerst nach Sendai fah­ren, die Hauptstadt der nörd­lich von der Präfektur Fuku­shima befindlichen Präfektur Miyagi. Eigentlich fährt die Joban-Line an der Pazifikküs­te zwischen Tokio und Sendai, und die Gesamtlänge beläuft sich auf circa 350 Kilometer. Aber diese Strecke war vom Tsunami und vom AKW-Un­fall stark betroffen und kann jetzt noch nicht durchgehend befahren wer­den. Vom Süden kommend kann man bis zum Bahnhof Tatsuta fahren, der sich in der im September 2015 für die Rückkehr freigegebe­nen Kleinstadt Naraha befin­det, und vom Norden bis zum Bahnhof Nami’e, die Stadt, die südlich von Minamisoma liegt und Ende März dieses Jahres für die Rückkehr frei­gegeben wurde. Zwischen dem Bahnhof Tatsuta und Nami’e ist die radioaktive Belastung noch sehr hoch, weshalb die Strecke erst im März 2020 für die Durchfahrt freigegeben wurde. [1]

Ich bin zuerst von Fukushima nach Sendai gefahren und dort in die Joban-Linie umgestie­gen. Am Anfang fand ich, dass alles so normal aussieht, aber je südlicher ich gefahren kam, desto verwüsteter sah es aus beim Blick aus dem Zug­fenster. Ich bemerkte ferner, dass die Strecke teilweise er­neuert worden war. Eine Teilstrecke durch Reisfelder wurde wegen Tsunami-Gefahr mittels einer Brücke etwas höher gelegt. Es gibt auch neu gebaute Bahnhöfe. Die neu gebaute Strecke soll erst seit Dezember 2016 befahrbar sein. In den Reisfeldern wach­sen nur Unkräuter, und ich habe niemanden gesehen, der dort gearbeitet hat. Lebenszei­chen konnte ich nur an der Küste und auf der Straße wahr­nehmen. An der Küste wird mit Baggern für den Damm­bau noch viel gearbeitet und auf der Straße fährt eine Schlange von Lastkraftwagen.

Je näher ich Minamisoma komme, desto älter sieht die Strecke aus, insbesondere zwischen dem Bahnhof Soma und Haranomachi in der Stadt Minamisoma. Das liegt daran, dass dieser Streckenabschnitt etwas weiter von der Küste entfernt ist und von Erdbeben und Tsunami nur wenig be­troffen war. Er ist bereits seit Dezember 2011 in Betrieb.

Im Bahnhof Haranomachi sind nach der Katastrophe viele Züge stehen geblieben, da sie weder nach Norden noch nach Süden fahren konnten. Die Züge mussten teilweise über die Straße abtransportiert oder verschrottet werden. Als ich im Juni 2017 dort war, stand auf dem Bahnhofsgelände noch ein außer Betrieb ge­nommener Express-Zug.

Der Bezirk Odaka

Um den von Norden kommend noch befahrbaren Bahnhof Nami’e zu erreichen, muss man im Bahnhof Haranomachi in der Stadt Minamisoma umsteigen. Der Zug fährt nicht direkt zum Bahnhof Nami’e. Es gibt jetzt für die 4 Stationen den Pen­delverkehr zwischen Harano­machi und Nami’e.

In der Mitte der Strecke ist der Bahnhof Odaka im Bezirk Odaka, der zur Stadt Minami­soma gehört. Da dieser Bezirk sich innerhalb der 20 Kilome­ter-Zone um das Unfall-AKW befindet, war er lange gesperrt und wurde im Juli 2016 für die Rückkehr freigegeben. In den Bezirk kamen bisher we­niger als 20 Prozent der ur­sprünglichen Einwohner zu­rück. Jetzt wohnen dort nur circa 2.000 Menschen.

Frau KOBAYASHI Tomoko ist die Wirtin des Gasthofs im traditionellen japanischen Stil „Futabaya Ryokan“, die vor dem Bahnhof Odaka von ihrer Familie betrieben wird. To­moko ist die 4. Generation. Sie und ihr Mann Takenori sind nach der Katastrophe nach Nagoya in der Mitte Ja­pans evakuiert worden. Ein Jahr später kehrten sie zurück und wohnten in einer proviso­rischen Wohneinrichtung im Bezirk Haramachi, in dem sich der Bahnhof Haranoma­chi befindet. Sie durften sich schon bald zeitweise zu Hause aufhalten. [2] Als Tomoko wieder nach vor dem Haus stand, fand sie ein verwüstetes Haus vor. Die Überschwemmung durch den Tsunami hat überall eine schmutzige Masse zurückge­lassen, und das Dach war auch nicht mehr dicht. Sie dachte daran, den Betrieb aufzuge­ben, war aber gleich davon überzeugt, dass man für den Wiederaufbau von Odaka ei­nen Treffpunkt braucht, dem ihr Haus dienen könnte, wenn der Bezirk irgendwann für die Rücksiedlung freigegeben wird.

Danach ist sie jeden Tag zu ihrem Haus gefahren, um auf­zuräumen, aber das Wasser­versorgungsnetz war zerstört, und man konnte nicht richtig mit der Sanierung des Hauses beginnen. Sie begann erst im August 2013 und wurde mit Hilfe einer staatlichen Zu­wendung finanziert.

Bald fang Tomoko an, im und um den menschenleeren Platz und an der Straße vor dem Bahnhof Blumen zu pflanzen. Dabei wurde sie von den Menschen angesprochen, die durch Zufall dort vorbeika­men. Dadurch lernte sie viele Menschen kennen, von denen viele ihr bei der Sanierung des Hauses ehrenamtlich halfen.

Die Sanierung dauerte gut 2 Jahre, länger als sie gedacht hatte. Sie kostete auch viel mehr. Ihr war bewusst, dass es dort wegen der Strahlung nicht ganz sicher ist. Deshalb hat sie ihren Kindern und Enkeln jetzt noch nicht empfohlen, nach Hause zurückzukehren. Aber gemeinsam mit ihrem Mann, der auch Leiter der Bür­germessstelle Minamisoma [3] ist, gelangte sie zu der Überzeu­gung, dass man in ihrem Haus wieder wohnen kann, weil der Strahlenwert nicht mehr so hoch sei. Als sie ein Jahr nach dem AKW-Unfall dort war, lag die Ortsdosisleistung schon bei weniger als 0,2 μSv/h. Sie nahm an, dass der Wert immer weniger wird. Ihr Mann, Takenori, sagte mir jetzt, dass dabei der starke Wille zur Rückkehr eine Rolle gespielt hat. Sie nahmen schon ab Ende August 2015, vor der Freigabe für die Rücksiedlung vom 12. Juli 2016, vorläufig Gäste auf.

Die wieder geöffnete Futabaya Ryokan

Tomoko sagte mir, dass sie die Arbeiter bei der Dekonta­mination, der Sanierung des Hauses oder beim Abriss der nebenstehenden Häuser oft extra darauf hinweisen muss­te, dass es sehr gefährlich ist, ohne genügende Maßnahmen für den Strahlenschutz zu ar­beiten. Man hatte wenig da­rauf geachtet. Außerdem musste sie oft mit den Gästen über die Strahlengefahr strei­ten. Nach Tomokos Meinung ist man sich oft der Gefahr zu wenig bewusst.

Sie zweifelt oft am Gelingen des Gesprächs mit den Men­schen über die Strahlengefahr. Sie fragte mich, „was soll man da machen?“ Ich musste sie trösten und sagte, man solle immer wieder mit den Men­schen reden. Man könne trotzdem nicht viel erreichen, aber es lohne sich, wenn sich einer mehr über die Gefahr klar werde.

Futabaya Ryokan wurde tat­sächlich schnell zum Treff­punkt vieler Menschen wie ehrenamtliche Helfer, Wissen­schaftler, Studenten, Journa­listen, und so weiter. Zum Beispiel wohnte dort die Lite­raturnobelpreisträgerin Swet­lana Alexijewitsch. Auch die im Exil lebenden Einheimi­schen können zur Vorberei­tung für die Rücksiedlung auf Kosten der Stadtverwaltung dort wohnen.

Das Gasthof ist immer sehr gut belegt. Wenn die Wirtin sehr beschäftigt ist und keine Zeit für die Zubereitung des Abendessens hat, können die Gäste in der nahe gelege­nen Sushi-Bar oder im Nudel­laden auf Kosten der Wirtin essen, da man im Bezirk keine andere Wahl hat.

Das Viertel der Alten

Nach der 5-jährigen Jubilä­umsveranstaltung für die Bür­germessstelle „Todokedori“4 feierte man gemeinsam in ei­nem Restaurant. Ich war auch dabei und saß neben einem Beamten der Stadtverwaltung, der die Messstelle privat un­terstützt. Ich fand das großar­tig, so etwas ist wahrschein­lich bei den Beamten eher selten in Japan.

Er war aufgeschlossen für meine Fragen.

Ich fragte ihn, ob junge Familien nach Odaka zurückgekehrt sind.

Er sagte, nein.

„Sind überwiegend die alten Menschen zurückgekehrt oder nur die alten?“ So fragte ich weiter.

Er musste zugeben, dass es nur alte Menschen sind.

Ich fragte mich, wie es dann mit den alten Menschen weitergeht, und sagte ihm, dass sie wohl in näherer Zu­kunft sterben werden.

Ja, stimmte er zu, und ich musste dann fragen, was man da ma­chen kann.

Er schwieg eine Weile und sagte, man habe noch keine Lösung.

Er ergänz­te, dass sich tendenziell auch jüngere Menschen um die Stellen in der Stadtverwaltung bewerben. „Somit haben wir jetzt einige junge Mitarbeiter.“

So sagte er stolz.

Aber ich wusste, dass junge Menschen in Japan nach dem Studium schwer eine Stelle finden können. Deshalb nehmen sie die Lebensbedingungen in verstrahlten Gebieten in Kauf.

Ich beobachtete vor dem Bahnhof Odaka etwas Merk­würdiges: Früh morgens und früh abends fährt oft ein Bus mit Schülerinnen und Schü­lern vor dem Futabaya Ryo­kan vorbei, und ich sehe auch einige Schüler davor vorbei­gehen. Ich fragte mich: Gibt es im Bezirk Odaka etwa eine Schule, die geöffnet ist? Das war für mich unvorstellbar.

Als ich nach dem Frühstück mit der Wirtin Tomoko dar­über sprach, wurde klar: Zwei alte Oberschulen in Odaka wurden zusammengelegt, und schon vor der Freigabe des Gebietes für die Rückkehr wurde im April 2016 eine neue Oberschule eröffnet. Die neue Schule heißt industrie­technische Oberschule Odaka. Zur Schule kommen nur Schülerinnen und Schüler von auswärts. Die Schülerzahl soll am Anfang bei 165 gelegen haben. Sie kommen mit der Bahn zum Bahnhof Odaka und werden dann mit einem Shuttlebus zur Schule ge­bracht.

Tomoko erklärte, das sei stra­tegisch gedacht, damit der Be­zirk lebendig gemacht werden kann. Sie ist aber sehr skep­tisch, ob die Strategie aufgeht. Für sie ist alles ein Unsinn, was dort unter dem Namen des Wiederaufbaus gemacht wird. Sie findet, dass alles nach der alten Denkweise wie vor der Katastrophe gemacht wird. Um die Katastrophe zu überwinden, müsse man aber neu denken und ganz innova­tive Ideen haben.

Ein Wanderjournalist

Herr SUGITA Kazuto ist Jour­nalist und Filmemacher und gibt seit der Katastrophe das Magazin „J-one“ heraus, das über deren Folgen in der Präfektur Fukushima berichtet. Er ist viel umhergewandert in der Präfektur und wohnt jetzt in einem Haus in Odaka, das von Tomoko und einer Mit­streiterin für den Wiederauf­bau von Odaka gekauft wurde. Er geht jeden Abend zum kos­tenlosen Baden und Abendes­sen zu Tomoko und spricht dort mit den Menschen. Es scheint mir, dass er unter den Einheimischen sehr gut inte­griert ist.

Für ihn ist Minamisoma eine sehr interessante und kompli­zierte Stadt, da dort drei histo­risch und gesellschaftlich ganz verschiedene Gemeinden fusi­oniert sind. Haramachi ist die reichste, und Odaka die ärms­te. Da Odaka nach der Kata­strophe zur Sperrzone wurde, erhalten die Einwohner in Odaka viel mehr Entschädi­gung, aber die nördlich von Odaka wohnenden Einwohner Haramachis bekommen we­sentlich weniger. Das ist ein großer gesellschaftlicher Kon­fliktstoff und erregt viel Neid. Kazuto erzählte mir, dass die Politik in der Stadt vom Ha­ramachi-Interesse dominiert und am Wiederaufbau in Oda­ka wenig interessiert ist. Oda­ka werde immer mehr in Stich gelassen.

Als ich in der Bürgermessstel­le Minamisoma war, hat er ei­ne Bodenprobe mitgebracht, die von einem der Blumenkäs­ten bei ihm entnommen wur­de. Die gehören auch zu To­mokos Projekt zum Einpflan­zen von Blumen in Odaka. Er will wissen, ob und wie viel radioaktive Stoffe immer noch in der Luft schweben und auf den Boden fallen. Das Cäsi­um-134 lag bei circa 5 Bec­querel pro Kilogramm (Bq/kg) und Cäsium-137 bei circa 41 Bq/kg. Es muss noch weiter regelmäßig gemessen werden, um festzustellen, ob radioak­tive Stoffe neu auftreten.

Das Messergebnis der Erde aus dem Blumenkasten

Die Haustierretterin

Bei Tomoko lernte ich eine Japanerin aus Nagoya kennen, Frau INOUE Megumi, die in der Sperrzone hinterlassene Haustiere wie Hunde und Kat­zen fängt und ihnen ein neues Zuhause vermittelt. Ich mag auch Hunde und Katzen und finde es großartig, was sie macht.

Sie erzählte, dass es aber nicht einfach ist. Insbe­sondere sei es sehr schwer, die Hundehalter von der Tren­nung zu überzeugen. Die meisten Hundehalter lassen ihre Hunde nach der Evakuie­rung im alten Haus an der Leine und kommen ab und zu zum Füttern. Sie glauben, dass sie irgendwann nach Hause zurückkommen und wieder mit den Hunden zusammenle­ben können. Außerdem sind sie der Auffassung, dass die Hunde als Wachhund ihr Haus vor Einbrechern schützen. Megumi drängt sie oft vergeb­lich zur Abgabe.

Bei Katzen ist das nicht der Fall, aber sie klagte darüber, dass sie bisher für die Ganz­körpermessung von Katzen niemanden finden konnte. Ich war nicht sicher, aber viel­leicht könnte man die Mess­wertdifferenz haben, wenn man eine Person ohne Katze und mit Katze misst. Ich er­kundigte mich danach bei der Bürgermessstelle in der Stadt Fukushima, [4] da sie ein Ganz­körper-Messgerät hat. Herr SHIMIZU von der Messstelle war der Meinung, dass die Messwertdifferenz im Rah­men des Messfehlers liegen wird, da der Katzenkörper zu klein sei. Er schlug vor, Urin­proben zu sammeln und zu messen. Das ist auch unvor­stellbar, wie soll man Katzen­urin sammeln? Katzenstreu kann man sammeln und mes­sen, aber dann ist die Frage, wie viel Urin in der Katzen­streu ist. Das ist schwer zu ermitteln.

Eine weiße Katze schläft auf den schwarzen Säcken mit kontaminierter Bodenerde und Schutt
(Foto: INOUE Megumi)

Anmerkungen:

[1] Die Streck zwischen dem Bahnhof Tatuta und dem nördlich davon befindelichen Bahnhof Tomioka wurde im Oktober 2017 wieder eröffnet, und nur noch die Strecke zwischen dem Bahnhof Tomioka und Nami’e war bis März 2020 nicht befahrbar.

[2] Die Gebiete, in denen der Jah­resdosiswert 20 mSv/a noch über­schreiten kann, und die noch eva­kuiert bleiben, werden als Gebiete mit Wohnbeschränkung betrach­tet. Dort darf man zeitweise nach Hause fahren, und für den Wieder­aufbau der Infrastruktur das Ge­biet betreten.

[3] Siehe den Absatz „Die Stadt Minamisoma“ im Kapitel „Bürgermessstellen in Japan kämpfen um ihre Existenz“.

[4] Siehe den Absatz „Die Stadt Fukushima“ im Kapitel „Bürgermessstellen in Japan kämpfen um ihre Existenz“.

(Die 1. Veröffentlichung: Strahlentelex Nr. 736-737 / 31. Jahrgang, 7. September 2017, S. 05-08. Es wurde noch dazu teils ergänzt,um den Beitrag zu aktualisieren.)

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