Der missachtete Grenzwert

(Folgen von Fukushima)

8 Jahre nach der Atomkatastrophe in Fukushima wird nach und nach enthüllt, was dann tatsächlich nach dem 11. März 2011 geschah. Jetzt ist es wichtig zu wissen, wie die japanische Regierung versucht hat, alles zu verharmlosen und zu vertuschen.

Man kann per Internet viele offizielle Dokumente einsehen, aber es ist auch wahr, dass es noch viele Dokumente gibt, die nicht veröffentlicht oder nach der Veröffentlichung wieder aus dem Internet herausgenommen wurden. Den ganzen Umfang der Wahrheit kann man wahrscheinlich nie erfahren.

Aber langsam kann man versuchen, die wahre Geschichte teils zur Enthüllung zu bringen.

In meinem Beitrag des Strahlentelex „Wie hoch war die radioaktive Belastung mit Jod-131 wirklich“ in der Oktober-Ausgabe vergangenen Jahres 20181 habe ich die Studie des Molekularbiologes, KAWATA Masaharu, vorgestellt2. Herr Kawata hat darin enthüllt, dass die aus der Belastung der Muttermilch ermittelte Äquivalentdosis für die Säuglingsschilddrüsen bis in den vierstelligen Bereich reicht. Über das Ermittlungsergebnis wurde in der Expertensitzung des Umweltministeriums im Mai 2014 berichtet. Obwohl die der Sitzung vorgelegten Unterlagen normalerweise auf der Website des Umweltministeriums einzusehen und herunterzuladen sind, ist die betroffene Unterlage dort nicht zu finden. Ich konnte aber selbst aus dem auf der Website verfügbaren Sitzungsprotokoll3 von diesem Tag feststellen, dass tatsächlich in der Sitzung darüber diskutiert worden war, und dass die Werte auch so hoch waren. Ansonsten hätte ich in meinem Beitrag nicht darüber berichten können.

Die Enthüllungsmethode

Das wichtige Instrument für die Enthüllung ist das japanische Datenveröffentlichungsgesetz, mit dem man öffentliche Dokumente beanspruchen kann. Dabei handelt es sich um Verwaltungsakten bei allen staatlichen Stellen. Wenn der Antrag gestellt wird, wird genau geprüft, ob eine Kopie des betroffenen Dokumentes abgegeben werden kann. Im Prinzip kann man das nicht verweigern, sofern die Veröffentlichung der Dokumente die Sicherheit und Ordnung des Landes nicht gefährdet.

Erst nach Erhalt der Dokumente kann man dann mit sorgfältigen Recherchen beginnen.

Ich habe mal versucht, danach einen Antrag beim japanischen Gesundheitsministerium zu stellen, um die Daten über die Schilddrüsenunterfunktion bei den Neugeborenen zu erhalten. Die Krankheit wird durch die Massenblutuntersuchung gleich nach dem Geburt festgestellt, und fast alle Neugeborenen werden darauf untersucht. Es hat lange gedauert, aber ich konnte nach mehrmaligen Verhandlungen mit dem zuständigen Beamten ohne Antragstellung die Daten bekommen. Nachher wurde mir von meinen japanischen Mitstreitern gesagt, dass es eigentlich unvorstellbar sei, dass solch ein Dokument ohne Antrag abgegeben wurde.

Die Daten wurden von Herrn Alfred Körblein analysiert, und in der April-Ausgabe des Strahlentelex 2018 ist das Analyseergebnis unter dem Titel „Anstieg von Schilddrüsenunterfunktion bei Neugeborenen in Japan nach Fukushima“4 erschienen.

Recherche der Tokioter Zeitung

Vom Januar bis zum März dieses Jahres 2019 hat die Tokioter Zeitung nach ihrer Recherche über die nach dem Datenveröffentlichungsgesetz zur Verfügung gestellten zahlreiche Dokumente durch eine Reihe von Artikeln einige bemerkenswerte Enthüllungen gemacht.

Die Tokioter Zeitung ist eine regionale Zeitung für den Osten Japans um Tokio mit der Auflage von knapp 500,000. Sie kann auch mit ihren Schwesterzeitungen, die die Hauptartikel gemeinsam herausgeben, auch als die drittgrößte überregionale Zeitung in Japan betrachtet werden. Die Auflage beträgt insgesamt mit Schwesterzeitungen etwas weniger als 3 Mio.

Von diesen Artikeln sind im Internet nur kurze Ausschnitte kostenlos einzusehen. Um die ganzen Texte von hier aus zu lesen, muss man das e-Papier abonnieren5.

Die Erhöhung des Grenzwertes

Ich habe in meinem Beitrag in der Januar-Ausgabe 2018 des Strahlentelex darüber berichtet, dass am 12. März 2011 der im Notfall gültige Grenzwert für die Körperoberflächenkontamination von 13.000 cpm (counts per minute = Impulse pro Minute) angeordnet wurde und 2 Tage später der Grenzwert auf 100.000 cpm angehoben wurde. Erst wenn der angehobene Grenzwert überschritten wurde, musste der ganze Körper dekontaminiert werden. Für die Einzelheiten siehe meinen Beitrag „Vom AKW-Arbeiter zum Atomgegner“6.

Der Strahlenschutzbeauftragte des Subunternehmens für das Unfall-AKW Fukushima-daiichi, SHIRAHIGE Yukio, konnte die Erhöhung des Grenzwertes überhaupt nicht verstehen. Die Erhöhung sei mit seinen Erkenntnissen und Erfahrungen als Strahlenschutzbeauftragter nicht vereinbar. So dachte er damals.

Shirahige mit einem Meßgerät am Fenster des selbst dekontaminierten Hauses, das in der Sperrzone liegt

Beim Grenzwert von 13.000 cpm wird die Äquivalentdosis für die Kinderschilddrüsen zu 100 mSv mit einer Aktivität von 40 Becquerel pro Quadratzentimeter (Bq/cm2) an der Körperoberfläche angenommen. Hier ist auf den Wert von 100 mSv sehr zu achten, da in Japan sehr oft gesagt wird, dass es unter 100 mSv gesundheitlich kein Problem gibt. Man kann deshalb sagen, dass der Wert von 100 mSv für die japanische Regierung der absolute Grenzwert überhaupt ist.

Die Erhöhung des Grenzwertes auf 100.000 cpm bedeutet jedoch schon die völlige Missachtung des 100 mSv-Grenzwertes.

Nach dem Handbuch der Präfektur Fukushima für die medizinischen Maßnahmen im Strahlenschutznotfall soll zuerst die Körperoberflächenkontamination mit dem cpm-Wert am Körper gemessen werden. Danach wird die Körperoberfläche dekontaminiert. Erst dann soll die radioaktive Belastung der Schilddrüsen am Hals durch den Szintillationszähler gemessen werden. Das Messverfahren stammt aus dem Handbuch des staatlichen Amtes für Wissenschaft und Technologie von 1993. Dieses Verfahren bezweckt, festzustellen, bei wem die radioaktive Belastung für die Schilddrüsen den Grenzwert von 100 mSv überschreiten kann. Wenn das der Fall sein kann, dann soll die Körperoberfläche dekontaminiert und am Hals mittels des Szintillationszählers gemessen werden. Damit kann man die innere Verstrahlung für die Schilddrüsen ermitteln.

Diese Regelung wurde beinahe sofort nach der Atomkatastrophe von der Regierung ignoriert.

Falls nach der Katastrophe der Grenzwert bei 13.000 cpm bleiben sollte, würden nicht nur Szintillationszähler, sondern auch Personal für die Messung fehlen. Deshalb soll der Grenzwert auf den höchsten Messwert des cpm-Messgerätes erhöht worden sein. Im Fall des Grenzwertes von 13.000 cpm müssten ferner die Menschen in der Kälte lange auf die Messung warten, und das könnte Lungenentzündungen auslösen.

So soll die Begründung für die Erhöhung des selbst gesetzten Grenzwertes gelautet haben.

Als Folge wurde bei nur wenigen Menschen am Hals die Belastungen der Schilddrüsen kontrolliert. Man soll aber bereits gewusst haben, dass bei vielen Menschen der Grenzwert von 13.000 cpm, d.h. 100 mSv für die Schilddrüsen, überschritten wird. In den Dokumenten der Präfektur Fukushima fehlen logischerweise die Angaben über die Zahl der Menschen, bei denen der Grenzwert von 13.000 cpm überschritten wurde. Dort soll nur die Zahl von 102 Menschen angegeben worden sein, bei denen der angehobene Grenzwert von 100.000 cpm erreicht wurde, .

Man muss sagen, dass bereits in der früheren Phase nach der Katastrophe von Strahlenschutz keine Rede mehr war, wenn es tatsächlich so war.

Dementsprechend soll auch eine Unterlage am 17.03.2011 vom staatlichen Institut NIRS (National Institute of Radiological Sciences) erstellt worden sein. Dort soll stehen, dass bei 100.000 cpm die radioaktive Belastung 0,17 mSv (!) beträgt. Wie man den Wert ermittelt hat, soll auch dort beschrieben worden sein. Wenn man das genau prüfen würde, könnte man sofort feststellen, dass die Berechnung nicht für die Schilddrüsen, sondern für den ganzen Körper gilt. Die Unterlage wurde auch den Beteiligten vor Ort übermittelt, aber für sie war nur schwer erkennbar, dass die Berechnung nicht für die Schilddrüsen gilt.

Außerdem wurde dementsprechend auch eine weitere Unterlage vom Vorstandmitglied des NIRS, AKASHI Makoto verfasst und an die der Regierung unterstehenden Atomsicherheitskommission übermittelt. Darin soll auch stehen, dass der erhöhte Grenzwert von 100.000 cpm gar kein Problem verursachen wird.

Keine epidemiologische Studie

Dieser Herr Akashi wurde zum Gespräch mit dem Regierungsvertreter eingeladen. Das Gespräch fand am 26.04.2011 statt. Der Regierungsvertreter war der stellvertretende Kanzleramtsminister, FUKUYAMA Tetsuro. Außerdem waren auch die hohen Beamten vom Wirtschafts-, Gesundheits- und Wissenschaftsministerium anwesend7.

Herr Akashi soll dabei die Empfehlung gegeben haben, dass keine epidemiologische Studie notwendig sei. Dagegen hätten die anwesenden Beamten keine Einwände erhoben, sie sollen sogar damit zufrieden gewesen sein.

Die Empfehlung soll zur Regierungsentscheidung beigetragen haben, die Gesundheitsuntersuchung nicht staatlich durchzuführen. Die Gesundheitsuntersuchung erfolgt nur unter der Führung der Präfektur Fukushima.

Herr Akashi ist Wissenschaftler und ist auch Mitglied des UNSCEAR.

Für mich ist es sehr rätselhaft, dass man so etwas Wichtiges in der früheren Phase definitiv empfehlen kann. Mir scheint, dass Herr Akashi gehandelt hat, als ob er kein Wissenschaftler wäre.

Das staatliche Institut NIRS ist ein Organ des Wirtschaftsministeriums, und zur Institutsleitung werden vom Wirtschaftsministerium hohe Beamten bestellt. Wissenschaftler dort müssen unter ihnen arbeiten.

Die fehlerhafte Messung und die fehlerhafte Bewertung des Messergebnisses

Eins ist eindeutig klar. Die Regierungsbeamten waren schon in der früheren Phase davon überzeugt, dass es keine wesentlichen gesundheitlichen Auswirkungen geben wird. Dieselbe überzeugende Passage soll auch im internen Papier vom 08.04.2011 gestanden haben, das an die unter der Führung des Wirtschaftsministeriums arbeitende Unterstützungsgruppe für Fukushima gerichtet war.

Die Grundlage für diese Überzeugung waren die Messungen für die Schilddrüsen, die vom 24.03. bis 30.03.2011 bei insgesamt 1.080 Kindern mit dem Szintillationszähler durchgeführt wurden. Die Messungen erfolgten in drei Ortschaften, nämlich der südlich vom Unfall-AKW befindlichen Stadt Iwaki (134 Kinder), dem nord-östlich vom Unfall-AKW gelegenen Dorf Iitate (315) und der west-südlich an Iitate angrenzenden kleinen Stadt Kawamata (631). Die drei Ortschaften liegen vom Unfall-AKW mehr als 30 km entfernt.

Abbildung 1: Präfektur Fukushima

Hier muss ich noch ergänzend darauf hinweisen, dass keine Messung in den in der ersten Phase evakuierten Ortschaften durchgeführt wurde. In der Zeit der Messung ist niemand mehr dort gewesen. Bis zum 12.03.2011, als es im Block Nr. 1 explodierte, wurde die Evakuierung der innerhalb von 20 km um das Unfall-AKW befindlichen Ortschaften angeordnet. Die Explosionen im Block Nr. 3 und Nr. 4 ereigneten sich jeweils am 13.03. und 14.03.2011.

Die Beamten sollen deshalb davon ausgegangen sein, dass die evakuierten Einwohner zu der Zeit, zu der sich die Radioaktivität wesentlich erhöht hat, nicht mehr vor Ort waren.

Außerdem beträgt die Halbwertzeit des den Schilddrüsenkrebs verursachenden Nuklids Jod-131 8 Tage. D.h., man soll auch darauf achten, dass die Aktivität von I-131 im Zeitraum der Messung schon ca. ein Viertel weniger gewesen sein muss. Es ist schwer ermittelbar, wie viel Radioaktivität man tatsächlich in der ersten Phase ausgesetzt war.

Das untere Diagramm zeigt die Messergebnisse der Untersuchung.

Abbildung 2: Schilddrüsenmessergebnisse (netto)
von 1080 Kindern(8)

Danach wiesen mehr als die Hälfte der untersuchten Kinder gar keine radioaktive Belastung auf.

Ich habe dagegen nach der Studie von Herrn Kawata in meinem Beitrag „Wie hoch war die radioaktive Belastung mit Jod-131 wirklich“ in der Oktober-Ausgabe vergangenen Jahres 20181 dargelegt, wie fehlerhaft die Messung und die Bewertung des Messergebnisses waren.

Im März 2011 waren in der Präfektur Fukushima knapp 370.000 Menschen unter 18 Jahre alt. Davon wurden nur 1.080 Kinder untersucht. Die Untersuchung ist deshalb überhaupt nicht repräsentativ. Daraus einen Schluß zu ziehen, ist unmöglich.

Das Ergebnis der Untersuchung war trotzdem auch die Grundlage für den UNSCEAR-Bericht.

Trotz der Fehler bei der Messung und Analyse hat die Untersuchung wesentlich zur irrigen Überzeugung geführt, dass es keine gesundheitlichen Auswirkungen geben wird.

Die Handlungen und Äußerungen der japanischen Regierung sind immer noch von dieser Überzeugung sehr stark geprägt. Man könnte auch sagen, dass man unter dieser Überzeugung immer noch blind handelt, und dass man die Wahrheit nicht sehen will.

Ein operiertes Mädchen

Nach der Recherche der Tokioter Zeitung9 soll ein Strahlentechniker der Präfektur Fukushima am Hals eines elfjährigen Mädchens 50.000 bis 70.000 cpm gemessen haben. Das wurde im April 2011 den vor Ort anwesenden Wissenschaftern mitgeteilt, die für die Unterstützung der Messung in der Präfektur Fukushima anwesend waren. Sie haben vor Ort die radioaktive Belastung der Schilddrüse des betroffenen Mädchens in Höhe von mehreren Dutzend Becquerel berechnet.

Danach sollen ferner die Wissenschafter des staatlichen NIRS in einer Sitzung vorläufig die Belastung von ca. 100 mSv für die Schilddrüsen ermittelt haben. Die Tatsache wurde aber nie bekanntgegeben, und die Regierung hat bisher immer behauptet, dass bei keinem Menschen die radioaktive Belastung von 100 mSv festgestellt wurde.

Der Strahlentechniker soll vom 13.03. bis 15.03.2011 in der südlich an der Stadt Fukushima angrenzenden Stadt Koriyama für die Messung mit dem cpm-Messgerät tätig gewesen sein. Das Mädchen soll am 12.03.2011 in der Ortschaft Futaba, wo sich das Unfall-AKW befindet, mit anderen Kindern im Freien gespielt haben und danach evakuiert worden sein.

Das Mädchen ist inzwischen 20 Jahre alt und soll bereits wegen Schilddrüsenkrebs operiert worden sein.

(FUKUMOTO Masao)

Anmerkungen:

1 http://www.strahlentelex.de/Stx_18_760-763_S01-05.pdf

2 Die englische Version der Studie kann man unter folgendem Link einsehen: http://www.chernobyl-chubu-jp.org/_src/sc1838/kawata-bangaihen201821_English.pdf

3 http://www.env.go.jp/chemi/rhm/conf/conf01-07/ref04.pdf

4 http://www.strahlentelex.de/Stx_18_750-751_S05-06.pdf

5 Ich habe alle entsprechenden Artikel nachgeschlagen. Unten sind Links für die kostenlos zur Verfügung stehenden Ausschnitte aufgelistet, auf deren Artikel ich mich überwiegend in dem Beitrag berufe.

https://www.tokyo-np.co.jp/article/national/list/201902/CK2019021802000125.htmlh

https://www.tokyo-np.co.jp/article/tokuho/list/CK2019031102000148.html

6 http://www.strahlentelex.de/Stx_18_744-745_S01-04.pdf

7 https://www.tokyo-np.co.jp/article/national/list/201902/CK2019021802000125.html

8 http://www.gakushuin.ac.jp/~881791/housha/details/files/siryo1.pdf#search=%27%E5%B0%8F%E5%85%90%E7%94%B2%E7%8A%B6%E8%85%BA%E8%A2%AB%E3%81%B0%E3%81%8F%E8%AA%BF%E6%9F%BB%E7%B5%90%E6%9E%9C%E8%AA%AC%E6%98%8E%E4%BC%9A%E3%81%AE%E7%B5%90%E6%9E%9C%E3%81%AB%E3%81%A4%E3%81%84%E3%81%A6%27

9 https://www.tokyo-np.co.jp/article/national/list/201901/CK2019012102000122.html

FUKUSHIMA