Der erste Besuch von Fukushima

Tagebuch eines japanischen Journalisten von fukumoto masao (2011)

Ich habe Anfang Oktober 2011 vor, die Bürgermessstelle CRMS (Citizens´ Radioactivity Measuring Station) Fukushima zu besuchen. Ich bin zum ersten Mal in Fukushima.

Die Messstelle liegt circa 10 Minuten zu Fuß vom Hauptbahnhof Fukushima entfernt. Da sie sich in einer neu errichteten kleinen Einkaufspassage befindet, ist sie etwas schwer zu finden. Ich musste mich bei einigen Passanten danach erkundigen, aber ihnen war sie überhaupt nicht bekannt. Die Straßennummer ist auch nicht zu sehen. Ich musste in der Straße hin und her laufen. Plötzlich sehe ich ein Geschäftsgebäude mit einer großen Glastür, und der Name der Einkaufspassage steht dran. Oh ja, das ist es.

Ich gehe hinein und sehe auf den beiden Seiten des Durchgangs kleine Läden. Ich bin ein klein wenig unsicher, da ich mir nicht vorstellen kann, dass eine Messstelle für Radioaktivität mitten zwischen den Läden ist.

Aber ich sehe vorne links das mir bekannte Logo der Bürgermessstelle. Das beruhigt mich, und endlich stehe ich vor meinem Ziel. Vor mir links ist eine breite Empfangstheke, und nebenan ist ein Sitzbereich mit einem Tisch und vielen Hockern. Er dient wahrscheinlich als Wartezimmer. Alle Möbel sehen sehr frisch und neu aus. Davor liegen viele ausgezogene Schuhe. Ja, stimmt. Ich bin in Japan und muss meine Schuhe ausziehen, wenn ich reingehen möchte.

Ich bemerke sofort, dass links auf der Theke eine Tafel steht, auf der die aktuellen Strahlenwerte angegeben sind. Da stehen die Ortsdosisleistung außen von 0,38 Mikrosievert pro Stunde (µSv/h)und die innerhalb des Gebäudes von 0,07 µSv/h. Die Werte wurden am 05.10.2011 um 9.00 Uhr gemessen.

Die Messwerttafel mit dem weißen Hintergrund

Darunter an der Theke ist noch eine Anzeige, an der beschrieben ist, dass die Ganzkörpermessung ausgebucht ist und erst ab 17.10. wieder buchbar ist.

Unterwegs in der Fukushima-Stadt sah es so aus, als ob man hier einen normalen Alltag hat. Es ist überhaupt nicht merkbar, dass es hier höher verstrahlt ist. Erst vor der Bürgermessstelle stehe ich der Tatsache gegenüber.

An der Empfangstheke ist eine Frau, die ich nach Aya und Wataru frage. Sie ist dann nach hinten verschwunden. Gleich kommt Wataru und sagt, „Fukumoto saaan!“ Ich soll dann reinkommen. Ich ziehe zuerst mal meine Schuhe aus und gehe rein.

Gleich sehe ich eine Holztür. Die öffnet Wataru und sagt, dass die Ganzkörpermessung dort durchgeführt wird. Das ist ein kleiner Bereich, der nur mit leichten Trennwänden abgetrennt ist. Drinnen ist ein Ganzkörpermessgerät in Form eines Sessels aus Weißrussland. Es ist schon klar, dass der Messbereich nicht abgeschirmt ist. Wataru sagt, dass die ganze Messstelle nicht abgeschirmt ist und man dadurch von Messergebnissen die Hintergrundstrahlung abziehen muss.

Im Nebenraum sind einige Messgeräte, an denen gerade ein älterer Herr bei der Messung von Reis ist. Ihn frage ich, ob er heute schon Messergebnisse für Reis hat. Dann zeigt er mir zwei Messblätter. Im einen sehe ich den Cäsium-134 (Cs-134) Wert von 3,17 ± 2,22 Becquerel pro kg (Bq/kg) und Cs-137 von 4,25 ± 2,59 Bq/kg. Im anderen sind die beiden Werte wesentlich niedriger, aber noch Jod-131 von 2,7 ± 1,96 Bq/kg. Die Werte sind wesentlich niedriger als ich erwartet habe.

Wataru sagt, dass beim Reis die Messwerte sehr unterschiedlich sind und man den Reis deshalb noch weiter messen muss.

Zum ersten Mal erfahre ich, wie das Messgerät aus Weißrussland aussieht. Es siehe wie ein robuster Behälter aus. Die Messstelle muss noch einen Germanium-Halbleiterdetektor haben. Wataru bedauert, er sei noch nicht in der Lage, ihn aufzubauen, da er mit anderen Dingen viel zu tun hat.

Messgerät aus Weißrussland

Da kommt Aya, aber wir haben in der Messstelle gar keine Sitzecke, in der man ruhig sprechen kann. Alles ist so eng.

Wir sitzen dann in einem kleinen Café in der Passage gegenüber der Messstelle.

Ich bin sehr froh, dass die Bürgermessstelle CRMS Fukushima als die erste Bürgermessstelle schon ca. ein halbes Jahr nach der Katastrophe eröffnet wurde. In Deutschland hat es nach der Tchernobyl-Katastrophe noch länger gedauert, bis die erste Bürgermessstelle gegründet wurde. Das Messen von Lebensmitteln in Bürgerhand zu nehmen ist es sehr wichtig, um damit die Unabhängigkeit bewahren zu können.

Ich habe vorher die Bürgermessstelle in der Stadt Kodaira bei Tokio besucht, die nach dem Tschernobyl-Unfall durch die dortigen Bürger gegründet wurde. Sie hat noch ein altes Messgerät, das noch gut funktioniert. Aber es dauert 6 Stunden, um die Radioaktivität in einem Lebensmittel zu messen. Deshalb ist die Anzahl von zu messenden Lebensmitteln stark begrenzt. Aber die Messstelle kann noch nach mehr als 20 Jahren bestehen, da sie anbietet, die Muttermilch zu messen. Das war sehr wichtig damals für Mütter, weil sie sich um radioaktiv belastete Muttermilch viel sorgten.

Die Messstelle darf aber ihre Messwerte nicht veröffentlichen, wenn der gemessene Wert den in Japan zugelassenen Grenzwert überschreitet. Die Messstelle wurde bei der Gründung durch die Stadt finanziell unterstützt, die ihr auch die Räumlichkeit zur Verfügung stellt. Wegen dieser finanziellen Unterstützung muss die Messstelle die Auflage einhalten. Das ist das Manko für diese Messstelle.

Aya erzählt als Leiterin, wie es mit der Messstelle in Fukushima läuft. Es scheint, dass sie finanziell gut unterstützt wird. Der Vermieter der Räumlichkeit soll auch für das Messen in der Einkaufspassage sein Verständnis gezeigt haben. Aya und Wataru sind bestens engagiert und sehr energisch, aber für mich ist nicht klar, ob es gut ist, dass die beiden Auswärtigen die Messstelle führen. Sie sind freiwillig aus Tokio gekommen, um den Einheimischen zu helfen. Da ich auch aus einer Provinzstadt in Japan stamme wie Fukushima, weiss ich, wie die Mentalität bei den Einheimischen ist. Sie sind meistens konservativer und verschlossener zu Auswärtigen, insbesondere zu Großstadtmenschen. Natürlich sage ich das Aya und Wataru nicht.

Ich war eine Woche zuvor in Yokohama, eine Mega-Großstadt bei Tokio. Dort wollen die besorgten Eltern, die Kleinkinder haben, auch eine Bürgermessstelle gründen. Sie treffen sich regelmäßig, um Fachkenntnisse von einem Wissenschafter zu erwerben und die Gründung der Messstelle vorzubereiten. Dort habe ich sehr engagierte Eltern kennengelernt. Dort hat man zwischen Einheimischen und Auswärtigen das Problem nicht, da sie alle Großstädter*innen sind.

Sie haben aber finanzielle Probleme, da sie noch nicht genügende Spendengelder haben, um ein teures Messgerät zu kaufen. Aber man muss für ein Messgerät mit bis zu 6 Monaten Lieferzeit rechnen. Ich musste sie deshalb überreden, jetzt schon die Bestellung aufzugeben. Sonst verliert man wichtige Zeit zum Messen von Lebensmittel. Und das kann auch zu mehr Engagement zum Sammeln von Spendengeldern führen.

Wir drei fahren dann von dem Café gemeinsam mit einem Kleinauto zum Mittagessen. Wataru bringt ein Strahlenmessgerät mit und legt es hinter die Frontscheibe des Autos.

Je mehr wir uns vom Stadtzentrum entfernen, desto lauter klingelt das Messgerät. Wataru erzählt, der Strahlenwert sei wesentlich höher in breiten Straßen und in den nicht dicht bewohnten Gebieten. Wenn ich mich noch richtig erinnere, zeigt das Messgerät Strahlenwerte bis zu 1 µSv/h. In Berlin liegt der Wert normalerweise bei ca. 0,1 µSv/h.

Wir sind in einem Selbstbedienungsrestaurant. Ich habe aus der Vitrine frittierte Austern genommen. Dazu noch Reis und Miso-Suppe. Dann sagt Wataru: „Du bist mutig.“ Das ist klar, dass Austern mehr kontaminiert sein könnten. Aber frittierte Austern sind seit meiner Kindheit eins meiner Lieblingsgerichte, und ich kann nicht nein sagen, wenn ich welche vor mir habe. Außerdem gehe ich davon aus, dass die Austern eher aus Hiroshima oder Südkorea stammen. Nachher erfahre ich, dass Austern auch an der Küster der Präfektur Miyagi gezüchtet werden, die nördlich an die Präfektur Fukushima angrenzt. Das wusste ich nicht. Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich bestimmt gezögert, Austern zu nehmen.

Aya will mir jetzt den alten Standort der Messstelle zeigen, der fast ausgeräumt ist. Er liegt nah dem Verwaltungsgebäude der Präfektur und ist wesentlich größer als der neue. Aber der neue ist viel zentraler, und die Lage ist wichtig, um mehr Bürgerinnen und Bürger zu erreichen.

Dort in der Nähe ist eine Grundschule, sagt Aya. Die will ich unbedingt anschauen. Wir gehen aufs Schulgelände. Wie ich vermutet habe, sehe ich keine Schülerinnen und Schüler auf dem Schulgelände. Am Sportplatz ist eine Anzeige ausgehängt, an der beschrieben ist, dass man keine draußen befindlichen Gegenstände berühren darf. Falls man irgendeinen Gegenstand berührt hätte, sollte man die Hände gründlich mit fließendem Leitungswasser waschen.

Neben dem Schulgebäude arbeiten 2 Männer, um einen Messpunkt zu errichten. Er soll in der Pflanzenanlage aufgestellt werden. Die dort stehenden Pflanzen wurden bereits herausgenommen und auf die Ladefläche eines kleinen LKWs geschafft, der neben der Pflanzenanlage geparkt ist. Ein zylinderförmiger weißer Messpunkt mit einer kleinen PV-Anlage ist aufgestellt.

Der Messpunkt in der Mitte

Der eine Arbeiter planiert die Erde mit einer Schaufel. Anders als in der Anzeige am Sportplatz angeordnet, tragen die beiden Arbeiter weder Handschuhe noch Mundmaske.

Als wir dem Messpunkt näher gekommen sind, bemerkte ich, dass irgendetwas auf der Erde ist. Ich kann nicht sofort erkennen, was das ist. Plötzlich versteckt einer der Arbeiter schnell den Gegenstand in seine Hosentasche. Ich glaube, dass Aya das nicht mitgekriegt hat. Wenn sie das auch beobachtet hätte, hätten wir auf dem Rückweg darüber gesprochen.

Erst später habe ich verstanden, was das war. Das war ein Messgerät. Die Arbeiter planierten die Ortsdosisleistung messend die Erde. Weshalb mussten sie auf der Erde die Strahlung messen? Weil auch der am Messpunkt zu messende Strahlenwert nicht zu hoch sein soll.

In der Tat dient die Aufstellung eines Messpunktes als eine Art der Dekontamination, weil die kontaminierte Erde dabei entfernt wird. An machen Messpunkten soll sogar eine Metallplatte in die Erde eingeschoben worden sein, um den Strahlenwert niedrig zu halten.

Das habe ich erst später erfahren.

Durch den Messpunkt zu messende Ortsdosisleistungen sollen als offizielle Messwerte gelten. Die Werte werden nicht nur von der japanischen Regierung, sondern auch von internationalen Organisationen wie UNSCEAR (United Nations Scientific Committee on the Effects of Atomic Radiation) für ihre Ermittlungen der Verstrahlung verwenden. Ob ihre Analysen damit zuverlässig sind, ist deshalb sehr fraglich.

Wir fahren zur Messstelle zurück. Ich lerne dort einen Mitarbeiter kennen. Es ist aber nicht angebracht, dass ich die Mitwirkenden der Messstelle als Mitarbeiter nenne. Fast alle Mitwirkenden arbeiten ehrenamtlich. Sie finden das Messen von Lebensmitteln sehr wichtig und wollen freiwillig dabei mitwirken.

Er war auffällig, da er an der Brust ein Plattenmessgerät trägt. Ich weiss, dass das Messgerät eigentlich für Kinder bestimmt ist. Die Regierung der Präfektur Fukushima hat es an die Kinder in der Präfektur verteilt, die unter 15 Jahre alt sind. Am Messgerät selbst wird kein Messwert angezeigt, und die Messwerte werden dort nur kumuliert aufgezeichnet. Um das Messergebnis zu erhalten, muss das Messgerät nach einer bestimmten Zeit zurückgegeben werden. Die Kinder sollen ein Jahr lang das Messgerät tragen.

Das Messgerät ist eigentlich für beruflich Strahlenexponierte gedacht, die im Strahlenkontrollbereich arbeiten wie z.B. in den Atomanlagen und bei der medizinischen Röntgenuntersuchung. Es ist nicht geeignet für Menschen, die der Strahlenexposition von allen Seiten ausgesetzt sind. Für solche Fälle kann das Messgerät nicht alle Strahlenbelastungen erfassen, und nach den Angaben des Herstellers soll der erfasste Strahlenwert bei 60 bis 70 % der tatsächlichen Strahlenbelastung liegen.

Man muss sagen, dass das Messgerät für den Fall der Fukushima-Kata­strophe nicht geeignet ist.

Plattenmessgerät

Der Mitarbeiter hat zwei Kinder, die dieselbe Grundschule besuchen. Der Vater dachte, dass die beiden Kinder unter den Umständen nach der Katastrophe zusammen zu Hause oder in der Schule sind, und dass sie damit der ähnlichen Strahlenexposition ausgesetzt sind. Dann brauchen sie nicht zwei Messgeräte. Ein Messgerät reicht für sie aus. Der Vater hat noch breitere Aktivitäten, für die er hin und her fahren muss. Er hat auch erfahren, dass die Präfektur Fukushima für die akute Dekontamination nach freiwilligen Mitwirkenden sucht, und will sich darum bewerben.

Offen sagt er mir aber, dass er Angst vor der Strahlenbelastung bei der Dekontamination hat. Ich frage ihn, ob man dafür geeignete Ausrüstungen wie Schutzkleidung, Handschuhe, Maske oder Messgerät bekommt. „Nein“, sagt er. Man soll dafür selbst geeignet bekleidet sein. Ich frage ihn weiter, was man nach der Dekontamination macht. „Kann man irgendwo duschen, bevor man nach Hause zurückfährt?“ Dafür soll man ein Merkblatt bekommt haben. Ich bin daran interessiert, was darin angegeben ist. Aber er hat das Blatt noch nicht gelesen und wusste es nicht, worauf man achten soll.

Er weiss, dass die Verwaltung der Präfektur für alles, was sie dazu anbietet, nicht verantwortlich sein will, und hat deshalb mehr Angst. Aber er will auch Betroffenen helfen. Zwischen der Angst und dem humanitären Willen schwankt er. Er hat noch nicht entschieden, ob er sich darum bewirbt, aber sagt mir, dass er seinen Willen eher unterdrücken würde, oder dass er vielleicht einmal daran teilnehmen und danach entscheiden würde.

An seinem Halsband steht „Halte durch, Japan!“ Der Spruch ist oft in der ganzen Präfektur zu sehen. Dass der Spruch auch am Halsband für Kinder geschrieben ist, hat mich etwas überrascht. Als Landsmann weiss ich, dass der Spruch für solch einen Notfall oft verwendet wird, um die Betroffenen und sich selbst zu ermutigen. Aber gegen die Verstrahlung kann man keinen Widerstand leisten. Alles, was man dabei machen soll, ist Evakuieren. Das Gefühl, dass man sich ermuntern will, kann ich als Japaner verstehen, aber ich finde den Spruch, der am Halsband für Kinder steht, nicht passend und ärgere mich sehr darüber, weil man dabei nicht sorgfältig nachgedacht hat.

Tagebuch