Einmal ohne Angst vor der Radioaktivität spielen
Tagebuch eines japanischen Journalisten von fukumoto masao (2017)
Als ich im Juni 2017 in Japan war, hatte ich Gelegenheit, die Kinder von Fukushima zu begleiten, die an einem Tagesausflug teilnehmen. Das war ein Sonntag. Ich machte dazu aus Tokio eine Tagesreise. Da die Gruppe vom Bahnhof Fukushima um 7.50 Uhr losfuhr, musste ich sehr früh aufstehen.
Von Tokio nach Fukushima dauert es mit dem japanischen Superexpress „Shinkansen“ gut anderthalb Stunden. Da die japanische Bahn superpünktlich fährt, brauchte ich mir keine Sorgen zu machen, verspätet anzukommen. Ich hatte im Bahnhof Fukushima nur 15 Minuten Zeit zum Umsteigen, das war aber genug bei den japanischen Verhältnissen.
Der Ausflug ohne Eltern
Ich hatte sogar noch Zeit, mich am Eingang mit den Kindern zu treffen. Dort sah ich drei Kinder und zwei studentische Begleiter. Sofort bemerkte ich, dass die Eltern nicht dabei sind. Ich fragte die eine ehrenamtliche Begleiterin, ob die Kinder nicht von ihren Müttern begleitet werden. Sie sagte, „Nein“. Eigentlich sollte eine Mutter dabei sein, aber sie hatte kurzfristig abgesagt.
Ich wusste, dass Mütter sich schwer tun, offen zu sagen, dass sie mit ihren Kindern eine Kurreise machen, damit die Kinder sich an einem nicht-verstrahlten Ort aufhalten können. Sie haben oft Angst, als überängstlicher Dummkopf gemobbt oder isoliert zu werden, falls sie es wagen sollten. Schweigen ist das sicherere Versteckspiel. Oder man sagt nur nachher, dass man auf Urlaub war. Wo man war, sagt man dabei lieber nicht.
Sollte eine Mutter die Ausflugsgruppe begleiten, so wäre sie dann wahrscheinlich etwas zu auffällig. Dann könnte man mitbekommen, wofür sie auf dem Weg war. Deshalb überlässt man lieber den Ehrenamtlichen ohne Elternbegleitung seine Kinder. Dabei würde man auch nicht erkennen, aus welcher Familie die Kinder stammen.
Die Kinderprojekte
Gleich darauf kam Herr KODAMA Naoya mit drei anderen Kindern. Ich sehe ebenfalls keine ihrer Mütter. Das war schon klar. Sie hatten sich zuerst vorher in der Stadt Koriyama getroffen und kamen gemeinsam mit der Bahn nach Fukushima.
Herr Kodama ist der Gründer und Vorsitzende der nicht gewinnorientierten Gesellschaft Earth Walkers (EW). Die Gesellschaft wurde nach der Erdbeben- und Tsunami-Katastrophe im Norden Japans 2011 gegründet, um den Betroffenen in den Katastrophengebieten zu helfen.
Für Kinder in der Präfektur Fukushima, in der die Menschen auch in weiterer Entfernung vom AKW durch die Katastrophe betroffen sind, führt die EW regelmäßig verschiedene Projekte durch, um Kindern die Möglichkeit zu geben, außerhalb des radioaktiv belasteten Umfeldes im Freien zu spielen, und zwar:
・Kurreisen für eine bzw. zwei Wochen in der Präfektur Miyazaki (auf der Südinsel Kyushu) für kleine Kinder (bis zu einem Alter von 6 Jahren) aus Fukushima, ein- bis zweimal im Jahr,
・Eintägige bzw. mehrtägige Ausflüge in die nord-westlich von der Präfektur Fukushima liegende Präfektur Yamagata für kleine Kinder und Grundschüler aus Fukushima, mehrmals im Jahr,
・Kurreise und Schüleraustausch in Australien für Mittelschüler aus Fukushima, einmal im Jahr, und
・Schüleraustausch in Deutschland für Oberschüler aus Fukushima mit den Schwerpunkten Fukushima und Erneuerbare Energien, einmal im Jahr.
Die Projekte werden durch Mitgliedsbeiträge, Spenden und Zuwendungen finanziert und durchgeführt.
Die Stadt Yonezawa
Das Ziel unseres Tagesausfluges ist Oosawa. Das kleine Dorf in der Stadt Yonezawa befindet sich ganz nah an der Grenze zwischen den Präfekturen Fukushima und Yamagata, die nord-westlich von der Präfektur Fukushima liegt. Die Stadt Yonezawa liegt in einem Talkessel und ist auf der östlichen und südlichen Seite weit von Bergen umgeben. Das Dorf Oosawa befindet sich mitten im Gebirge westlich von der Stadt Fukushima, aber am absteigenden Hang in Richtung Yonezawa.
Die Stadt Yonezawa ist der beliebteste Ort, der am meisten von den Kindern von Fukushima besucht wird, da die Stadt von der Radioaktivität verschont geblieben sein soll [1]. Man könnte annehmen, dass die radioaktiv belasteten Wolken nicht über das Gebirge zwischen Fukushima und Yamagata hinaus geflogen sind.
Wir sind eine kleine Gruppe, bestehend aus 6 Kindern, 2 Studenten, Herrn Kodama und mir. Jetzt fahren wir los.
Das Dorf Oosawa
Wir fahren vom Bahnhof Fukushima mit der Regionalbahn. Gleich nach der Abfahrt ziehen wir alle die blaue Weste von EW an. Wir tun es erst im Zug, als ob man es wegen der Auffälligkeit vorher vermieden hätte. Die Kinder sprechen ab und zu mit den Studenten, sind aber noch schüchtern. Nach und nach gelangen wir tiefer ins Gebirge. Wir erreichen nach circa 40 Minuten den Bahnhof Oosawa, der von Fukushima knapp 30 Kilometer entfernt ist und über 600 Meter hoch liegt.
Der ganze Bahnhof sieht wie eine Produktionshalle aus. Die Halle schützt die Bahnsteige und die Weichen im Winter vor viel Schnee. Als wir dort ausstiegen, war niemand da außer uns. Der Bahnhof wird durchschnittlich täglich nur von 3 Leuten genutzt, heißt es.
Als wir die Halle verließen, sehen wir vorne eine Gruppe mit jungen Menschen, die uns rufen. Es sind auch ehrenamtliche Studenten, die in der Stadt Yonezawa studieren. Es sind insgesamt 16. Der Student TANAMI Nagiha kennt schon einige der teilnehmenden Kinder. Er hatte sie schon einmal betreut. Sie freuen sich sehr miteinander über das Wiedersehen.
Das Dorf Oosawa florierte vor circa 450 Jahren als Beherbergungsstätte für die Reisenden, die durch das Gebirge zogen. Früher zählten 700 Einwohner zur Ortschaft, aber jetzt wohnen nur noch 13 Menschen dort, die meistens allein leben und sehr alt sind. Man sieht auch nur noch ganz wenige Häuser mit dem traditionellen Strohdach. Oosawa ist ein verfallenes Dorf.
Der Gemeindebeamte
Im Dorf wartet Herr AIDA Takayuki auf uns. Er ist Gemeindebeamter und arbeitet in der Stadtverwaltung Yonezawa. Das ist sein 39. Empfang der Kinder von Fukushima.
Herr Kodama suchte in der Nähe von Fukushima nach einem sicheren Ort, um Kindern von Fukushima öfters die Möglichkeit zu geben, ohne Angst vor der Radioaktivität im Freien zu spielen. Da bekannt ist, dass Yonezawa am wenigsten von der AKW-Katastrophe betroffen ist, besuchte er im April 2014 Herrn Aida in der Verwaltung und fragte ihn, ob man in Yonezawa monatlich Kinder von Fukushima für einen oder mehrere Tage aufnehmen kann. Es hatte von den in Yonezawa lebenden Evakuierten aus Fukushima den Hinweis erhalten, dass Herr Aida ein geeigneter Mann dafür ist. Die Stadt Yonezawa nahm auf dem Höhepunkt der Probleme bis zu 3.500 Evakuierte aus Fukushima auf. Das entspricht knapp 5 Prozent der Einwohner in Yonezawa.
Herr Aida ist für die Regionalförderung zuständig und führt dafür mit Studenten und jungen Einheimischen verschiedene Projekte durch, um verfallene Ortschaften lebendig und für junge Menschen attraktiv zu machen.
Als Herr Kodama Herrn Aida danach fragte, sagte dieser sofort und ohne zu zögern „Ja“. Er macht nicht dienstlich, sondern privat mit. Seitdem organisiert er mit weiteren Unterstützern und Studenten Ausflüge und betreut Kinder aus Fukushima. Wenn er einmal selbst nicht mitmachen kann, dann vermittelt er Akteure vor Ort. Dafür kann er seine beruflich aufgebauten Beziehungen sehr gut einsetzen.
So opfert er seine Wochenenden. Aber das Wort „Opfern“ ist kein passendes. Er freut sich sogar sehr, mitmachen zu dürfen, insbesondere wenn er die Kinder wiedersieht, die schon einmal daran teilgenommen haben. Er genießt auch sein ehrenamtliches Engagement, das nicht einfach als Unterstützung für Fukushima angesehen werden will. Er will eher Kindern und jungen Menschen die Gelegenheit geben, sich einmal vom Alltag zu befreien. Für Kinder von Fukushima bedeutet es auch, dass sie von der alltäglichen Verstrahlung frei sind.
Dafür ist das Dorf Oosawa ein geeigneter Ort mit viel Natur, wo Herr Aida auch für seine Wochenenden ein Haus mietet. Aber er konnte Kinder diesmal zum ersten Mal in Oosawa aufnehmen. Wegen Schnee und Kälte ist es zeitlich beschränkt, dort Kinder zu empfangen. Es ist im Mai noch sehr kalt, und im August gibt es am Fluss viele stechende Insekten. Während dieser Zeit sollen Kinder am Fluss weder spielen noch schwimmen. Und im Juli will man lieber anderswo mit Kindern Kirschen pflücken. Deshalb ist Juni der einzige Monat, in dem Kinder nach Oosawa kommen können.
Der ehrenamtliche Student
Wir laufen noch weiter ins tiefe Gebirge zu dem Ort, in dem wir campen. Unterwegs konnte ich mit dem Studenten Nagiha sprechen. Er studiert seit 2 Jahren Ingenieurwissenschaften an der Universität Yamagata und betreute schon mehrmals ehrenamtlich Kinder von Fukushima. Er freut sich auch besonders, die Kinder wiederzusehen, die er schon kennt
Mit dem ehrenamtlichen Engagement verändert er sich auch selbst. Alles, was er mit Kindern miterleben kann, macht ihm sehr viel Spaß, und er lernt auch von Kindern sehr viel. Das stimmt ihn auch nachdenklich, und es ist sich jetzt nicht mehr sicher, ob er noch weiter Ingenieurwissenschaften studieren soll. Er will jetzt lieber in Zukunft einen Beruf haben, mit dem er mit Kindern viel zu tun haben kann. Außerdem will er in Japan eine Rundreise machen, ohne Geld dabeizuhaben.
(Alle Fotos: FUKUMOTO Masao)
Der Curryreis
In ca. 30 Minuten erreichten wir unser Ziel, die alte Beherbergungsstätte „Kasamatsu“. Sie liegt an einem kleinen Fluss, und auf dem Vorplatz sind schon Tische und Bänke aufgestellt.
Auf Herrn Aidas Anweisung fangen die Kinder und einige Studenten an, um uns herum auf dem Boden liegende Zweige zu aufsammeln, die zum Kochen verbrannt werden sollen. Herr Aida und die Studenten laden außerdem von Herrn Aidas kleinem LKW einen großen Kochtopf, Gemüse, Geschirre und Bestecke aus.
Wir bereiten jetzt gemeinsam japanischen Curryreis zu. Dazu werden wir noch Salat und Miso-Suppe haben. Wenn ich sehe, wie die weiblichen und männlichen Teilnehmer jeweils automatisch getrennt ihre Rolle übernehmen, dann finde ich es etwas fremd und typisch japanisch. Die Frauen waschen die Gemüse ab und schneiden sie. Die Männer sammeln Zweige und feuern damit einen Herd an. Die Gleichstellung ist bei jungen Menschen in Japan noch nicht angekommen.
Dazwischen spielen die Kinder gerne am Herd mit dem Feuer. Die Studentin GOTO Akari, die Pädagogik studiert, verunsicherte das zuerst, da es für die Kinder gefährlich ist. Laut ihrem pädagogischen Lehrbuch ist es ein Tabu, dass man Kinder mit dem Feuer spielen lässt. Aber sie bemerkt in der Praxis, dass es besser ist, wenn Kinder selbst durch das Spielen erlernen können, wie gefährlich das Feuer ist.
In circa einer Stunde ist das Essen fertig. Der Reis wurde durch Herrn Aidas Frau vorher in ihrem gemieteten Haus gekocht. Sie brauchte dafür insgesamt drei Reiskocher. Das Essen wird verteilt, und jeder soll es sich selbst holen.
Alle sitzen an einem langen Tisch im Freien. Herr Aida fragte zuerst, ob jemandem etwas fehlt. Nein, alles in Ordnung, heißt es. Dann sagte er „Guten Appetit!
Das Spiel am Fluss
Nach dem Essen hatten wir eine Pause und räumten danach alles auf. Dann gibt Herr Kodama das Spiel am Fluss frei. Alle gehen zum Fluss. Das Wasser ist noch relativ kalt, aber für die Kinder und Studenten ist es kein Problem. Sie gehen sofort ins Wasser und bespritzen einander. Die Studenten haben die Aufgabe, nicht nur mit den Kindern zu spielen, sondern auch die Kinder vor möglichen Gefahren zu schützen.
Einige wollen bis zum nahe liegenden Wasserfall gehen. Das Mädchen Yuki brachte sich einen Schwimmring mit und schwimmt gerne damit.
Allen macht es Spaß, und sie freuen sich sehr darüber und strahlen vor Freunde. Oft hört man sehr freudige Stimmen. Für Yuki war es das erste Mal, so in der wilden Natur zu spielen. Sie will unbedingt wiederkommen.
Die teilnehmenden Kinder sind bis zu 10 Jahre alt und waren noch sehr klein, als die AKW-Katastrophe begann. Danach konnten sie zu Hause nicht mehr so im Freien spielen. Es ist deshalb verständlich, wenn Yuki sagt, dass alles für sie neu war.
Nach dem Wasserspiel mussten die Studenten die Kinder in der Beherbergungsstätte umziehen. Abschließend sammelten wir allen Müll in Müllsäcke, die auf Herrn Aidas kleinen LKW geladen wurden.
Jetzt müssen wir uns zurück zum Bahnhof Oosawa beeilen, weil der Zug nur selten fährt. Wir dürfen den geplanten Zug nicht verpassen. Sonst kämen die Kinder nicht rechtzeitig nach Hause zurück.
Wir laufen etwas schneller. Plötzlich sagt das Mädchen Rin unterwegs, dass sie ein Bedürfnis hat. Sie kann nicht bis zu Herrn Aidas Haus warten. Ein Student und ich warteten auf sie, und wir drei rannten später der Gruppe nach.
In einem Monat soll wieder ein eintägiger Ausflug stattfinden. Dabei werden in einem anderen Ort in Yonezawa Kirschen geerntet und es werden japanische kalte Nudeln gegessen. Da Herr Kodama dafür schon viele Anmeldungen hat, überlegt er noch, ob er einen Bus oder zwei Busse bestellen soll.
Anmerkung:
[1] Für das Projekt Kindergarten im Freien in Yonezawa siehe auch den Absatz „Die Stadt Fukushima“ im Kapitel „Bürgermessstellen in Japan kämpfen um ihre Existenz“.
(Die 1. Veröffentlichung: Strahlentelex Nr. 752-753 / 32. Jahrgang, 3. Mai 2018, S. 01-04.)
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